Der Letzte macht das Licht aus – Mitternachtsstunden auf dem Flughafen Berlin-Tegel

Der Brexit– der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – ist sehr nahegerückt. Die Hälfte der wahlberechtigten Bürger Großbritanniens  hat sich dafür entschieden und nun bangt alle Welt, was das für Auswirkungen haben wird.

Am Freitag, dem 24. Juni 2016, also einen Tag nach der Entscheidung, wähnte ich mich schon selbst fast als Opfer des Brexit.  Meine Tochter Ulrike flog mit der britischen Fluglinie British Airways  von Mexiko-Stadt nach Berlin-Tegel.  Planmäßig unterbrochen wurde die Reise auf dem Londoner Flughafen Heathrow, 19.55 Uhr sollte der Weiterflug sein. Doch Ulrike teilte per email mit, daß der Flug verschoben sei.

Ich aber, gerade beim Leichtathletik-Mittsommernachtssportfest  des SCC Berlin im Mommsenstadion weilend, bekam dort die Nachricht und gab sie skeptisch weiter. „Seht Ihr, das sind die ersten Auswirkungen, die EU-Bürger (wie meine Tochter) werden nicht mehr hinausgelassen“. Nicht ganz ernst gemeint, denn Verspätungen und Umbuchungen sind  bei Fluglinien eben üblich. Die nächste Meldung aus London: Der Abflug verzögert sich um eine Stunde. 22 Uhr verließ ich das Mittsommernachtssportfest und fuhr nach Tegel.

Und dann begann die Zeit des Wartens, die Zeit des Bangens, ob das Flugzeug mit meiner Tochter überhaupt noch nach Berlin-Tegel gelassen oder nach Berlin-Schönefeld umgeleitet würde.  Das hatte mir der erfahrene Beamte am Informationsschalter mitgeteilt. „ Ab 24 Uhr ist hier in Tegel das Nachtflugverbot in Aktion.  Wenn das nicht eingehalten wird, haben wir massive Anrufe und Beschwerden von Anwohnern, die sich von den Nachtfliegern gestört fühlen“.

Angezeigt auf der Ankunftstafel war der Flug der British Airways  BA988  zunächst mit der Ankunft um 0.08 Uhr.

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Eigentlich zu spät, um noch landen zu dürfen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Zwei Stunden  auf der Bank vor dem Ausgangstor A05 können lang werden. Doch mir hilft der Zufall dabei, sie zu verkürzen. Um mich herum werden es immer mehr Empfangende, und als es Sieben sind, frage ich: Was treibt Sie zu so später Stunde hierher? „ Wir warten auf Luise, unsere Tochter, die ein Jahr lang in den USA zu einem praktischen Jahr weilte. Nach Abschluß der 10. Klasse flog sie hinüber über den großen Teich, um in Boise, der Hauptstadt des Bundesstaates Idaho, bei einer Gastfamilie ein Jahr US-Luft zu schnuppern“.  Und dann schnappe ich das Wort „Erfurt“ auf. Erfurt, frage ich als gebürtiger Erfurter nach, warum Erfurt? Wir sind aus Erfurt, d.h. die Mutter mit Tochter, die dicht bei Erfurt, in Weimar geboren wurde. Und die anderen 5 Familienmitglieder vom Empfangskomitee kommen aus der Gemeinde Falkensee, westlich vor den Toren Berlins gelegen. Falkensee, werfe ich ein, da kenne ich einen Journalistenkollegen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der dort wohnt. „ Heißt er Michael Reinsch?-„ fragt der junge Mann, mit dem ich mich schon zuvor angeregt unterhalten habe. Ja, antworte ich und er erzählt mir noch, daß er von seinem Balkon aus auf das  Haus der Reinschs schauen kann und deren Kinder kennt.

Das Eis ist gebrochen, und wir sind alle überrascht, wie klein die Welt doch ist. Da kommen zwei Frauen aus Mexiko bzw. aus den USA nach Berlin und die Empfangskomitees am Flughafen Tegel haben einige Gemeinsamkeiten und sind sich deshalb auch schnell näher gekommen. Gemeinsam bangen wir, ob es der Flieger aus London noch schaffen wird, anzukommen, bevor das Nachtflugverbot eintritt.

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An der Anzeigetafel wird die Ankunftszeit mehrmals verändert, zunächst auf 0.01 Uhr und dann sogar auf 23.58 Uhr. Wir schöpfen Hoffnung und jubeln, als das Wort „landing“ erscheint. Nun sind wir sicher, daß wir nicht nach Schönefeld fahren müssen.

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Die Familie übt den Empfang, rollt das Spruchband aus.

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Und dankbar nehmen sie meine Bereitschaft an, das auch auf ihrem Fotoapparat zu verewigen. Vorher habe ich von ihnen noch ein leckeres Eis angeboten bekommen. Das lindert ein wenig meinen Hunger, denn das geplante Verspeisen einer leckeren Currywurst am S-Bahnwagen-Verkaufsstand scheiterte, weil der Laden schon 20 Uhr schloß. Überhaupt ist zu diesem Zeitpunkt der Flughafen Tegel ziemlich ausgestorben. Kein einziges Geschäft, kein Restaurant ist mehr offen. Hier wird der alte DDR-Schlachtruf „ Der Letzte macht das Licht aus“, Wirklichkeit.

Die Spannung steigt, die ersten Fluggäste strömen mit ihrem Gepäck heraus. Dann ist es soweit, ich darf meine Tochter Ulrike in die Arme schließen. Für eine Zigarettenpause geht sie ins Freie hinaus, und bald kommt auch Luise zum Vorschein. Locker und gelöst, man sieht der 17-Jährigen das eine Jahr USA-Aufenthalt an.

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Von ihrem Empfangskomitee wird sie gebührend empfangen, und  ich darf wieder als Fotograf amtieren.

Dann aber heißt es für mich, Abschied zu nehmen von dem Luise-Clan, denn es steht uns noch die einstündige Heimfahrt nach Neuruppin bevor.   Luise treffen wir aber doch noch mal, als sie mit Mutter und Schwester jemanden auf dem fast menschenleeren Flughafen sucht, der eine „Vermißtenmeldung“ annimmt.  „Der Koffer von Luise ist nicht angekommen“. Ein kleiner Wermutstropfen in der Empfangseuphorie. „Doch das ist bei Flügen aus London kein Einzelfall“, meint meine Tochter.

Luise wird es überwinden, vielleicht kommt der Koffer am nächsten Tag in Berlin an. Weit schwerer aber wird es für alle in Großbritannien, mit dem Brexit klarzukommen.

Peter Grau

 

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