Die 25-Jährige Corinna Harrer startet für die LG Telis Finanz Regensburg. Mit 16 Jahren wurde sie Deutsche Jugendmeisterin über 400 Meter. Diese Grundschnelligkeit nahm sie als Basis mit auf die Mittelstrecke und spezialisierte sich auf 1500 Meter. Auch auf längere Distanzen war sie schon erfolgreich. 2014 gewann sie den nationalen Titel über 10.000 Meter, vor der siebenmaligen Titelträgerin Sabrina Mockenhaupt.
Corinna Harrer hat auf ihrer Facebook-Seite ein Interview verbreitet, welches Max Bosse für die Berliner Zeitung führte. Es ist gewissermaßen der Hilferuf einer Leichtathletin, die dicht vor dem Einzug in die Weltspitze stand, die nach Rio wollte, aber nun nicht dabei sein konnte. Warum das so ist, lesen Sie im folgenden im Interview:
Für Corinna Harrer hat sich der Olympiatraum in einen Albtraum verwandelt. 21 Jahre war sie alt, als sie 2012 in London über 1500 Meter mit 4:05,70 Minuten das Finale um ein paar Zehntelsekunden verpasste. Nachträglich wurden mehrere Konkurrentinnen wegen Dopings disqualifiziert. Die Läuferin aus Regensburg hätte das Finale somit eigentlich erreicht − als erste Deutsche seit 1988. Doch was der Beginn einer Profikarriere in der Weltspitze hätte sein sollen, geriet zur Verletzungsodyssee. In Rio ist sie nicht dabei.
„Olympische Spiele machen dich kaputt“
Frau Harrer, was machen Sie am Mittwoch um 3.30 Uhr morgens?
Schlafen. Das 1500-m-Finale möchte ich nicht anschauen. Ich hatte an London eigentlich immer gute Erinnerungen. Das wurde im Nachhinein immer mehr zerstört. Olympische Spiele sind ein unheimlich schönes Erlebnis, aber sie machen dich auch kaputt. Man ist wie bei Big Brother jeden Tag überwacht und ein bisschen eingesperrt. Im Nachhinein sollte man sich die Zeit geben, das zu verarbeiten.
Ihre Bewunderung für andere Sportler ist erloschen?
Man weiß, dass gedopt wird. Ja, klar. Aber nicht, dass es so viele sind. Ich war im Halbfinale 17., inzwischen bin ich Elfte. Die Dunkelziffer ist viel höher. Rio wird nicht arg viel sauberer sein. Durch den Ausschluss der Russen und die Sperren manch anderer sind ein paar raus, aber von zwölf sind im Finale wohl immer noch fünf voll.
Sechs der ersten neun aus dem Finale in London wurde Doping nachgewiesen sowie zwei weiteren Läuferinnen aus den Vorläufen.
Das Halbfinale war für mich eines meiner größten Rennen, vor allem, weil ich vom vorletzten Platz noch mal aufkam. Und dann kommt so was. Die Freude ist weg. Ich wäre im Finale gewesen, und vielleicht hätte das Finale einen ganz anderen Charakter gehabt ohne die Gedopten, weil die nicht die Kraft gehabt hätten, noch mal so schnell zu laufen. Dazu kommt die Sache mit der Gesundheit.
Und zwar?
Um mit den Gedopten mitzuhalten, musst du die ganze Zeit trainieren, und dann kommt die Regeneration zu kurz. 2012 hatte ich das erste Mal Probleme. Am Tag vor dem Halbfinale habe ich vier Stunden beim Physio im olympischen Dorf verbracht. In so einem Moment achtest du nicht auf die Gesundheit.
Was war die Folge?
Nach London habe ich nur zwei Wochen Pause gemacht und dann wieder angefangen. Du willst immer mehr, 2014 stand die EM in Zürich an. Ich habe so lange trainiert, bis mir der Fuß gebrochen ist. Ich habe Tage, an denen ich aus dem Bett aufstehe und mich frage, ob es das wert ist. Ich humple rum wie eine 80-Jährige. Aber ich bin 25 Jahre alt.
2015 ist Ihre Achillessehne gerissen.
Ich hatte vorher schon jahrelang Fersenprobleme. Eine Russin hat mir bei der Mannschafts-EM dann die Achillessehne kaputt getreten. Ich will so nicht aufhören, mit diesen ganzen Verletzungen. Ich will es mir noch mal beweisen. Vielleicht ist es auch der Zeitpunkt abzuspringen. Der Verband hat mich in der Reha null unterstützt, und die Krankenkasse hat die Kosten nicht übernommen, weil es für die wie ein Arbeitsunfall war. Privat habe ich 10.000 Euro ausgegeben. Das war mein ganzes Erspartes von London. Wäre es beim Einsatz für den Verein passiert, wäre es bezahlt worden, weil man über den Verein versichert ist. Von der Sporthilfe habe ich eine Einmalzahlung bekommen: 1000 Euro. Der Tod ist 10.000 Euro wert.
Was ist das Problem?
Unser Bundestrainer fordert Profitum. Welche Möglichkeiten hat man? Ich wollte zur Polizei, Heimat und Verein aber nicht verlassen. Also wäre nur die Landespolizei gegangen. Die nimmt aber vorwiegend Wintersportler. Bundeswehr war für mich nie ein Thema, weil ich den Beruf ja auch nach dem Sport ausüben muss. Fordern, aber nicht fördern, das nervt mich.
Gibt es jemanden aus dem Rennen, der für Sie Olympiasiegerin ist?
Laura Weightman war im Finale relativ weit hinten. Die kenne ich sehr gut. Ihr traue ich zu, dass sie sauber ist. Wie sie trainiert, macht Sinn, sie bringt auch mal menschliche Leistungen. Ich bin aber sehr vorsichtig geworden. Letztlich sind die Sieger diejenigen, die für sich wissen, dass sie sauber sind.
Ist das ein Trost?
Nicht wirklich. Wäre ich in London im Finale gestanden, wären es fast 30.000 Euro mehr gewesen. Preisgelder, Sporthilfe und Sponsorengelder. Das wären fast zwei Jahre finanzierter Sport gewesen. Ich hatte die Hoffnung, den Sport als Profi so zu betreiben, dass ich davon leben kann. Wie soll ich mit denen, die Profisport machen, mithalten, wenn ich 30 Stunden arbeite, wie ich es jetzt mache? Einerseits erwartet Deutschland Profitum, andererseits tun wir zu wenig, um saubere Sportler zu unterstützen.
Bei der EM 2012 sind Sie aufgrund nachträglicher Doping-Disqualifikationen von Platz neun auf sechs gerutscht. Was bedeutet das?
Als Sechste hätte ich den A-Kader-Status bekommen, auch unter den Top-Acht bei Olympia. Der gilt für vier Jahre. Vier Jahre Geld vom Verband. Trainingslager wären bezahlt worden, mit Trainer und Physiotherapeut. Im B-Kader gibt es ein Mal im Jahr 200 Euro. Es ist nicht nur das. Bei der U23-EM 2011 war ich Dritte, inzwischen Zweite. Die Medaille habe ich jetzt nachträglich gekriegt, ich befürchte, dass es noch mehr werden. Bei der U20-EM 2009 war ich Zweite, die Erste ist inzwischen gesperrt. Es ist wie beim Lotto. Es ist ein Medaillenrecycling.
Deutsche sind immer nur Opfer?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Deutschen sauber sind.
Warum?
Manche Kontrolleure reden auch ihren Frust von der Seele und erzählen, wie andere versuchen zu bescheißen. Ich glaube, dass wir eine Nation sind, die sauberer ist als vielleicht Kenia oder Russland. Aber schwarze Schafe gibt es überall. Was mich positiv stimmt: Mir wurde noch nie etwas angeboten, in keinem Fitnessstudio, in keiner Praxis. Als ich mit dem Sport auf dem Niveau angefangen habe, dachte ich, dass irgendwann einer kommt und sagt, dass er da was hätte.
Man muss also selbst aktiv werden, um Dopingmittel zu bekommen?
Genau. Alleine ist das nicht möglich. Mein Trainer würde sich über die Leistung wundern, die Trainingsgruppe. Es gibt ein ganzes System, das dich irgendwann hinterfragt. Eigentlich musst du die einweihen. Du brauchst einen Arzt und einen Sponsor, um dir das leisten zu können. Einer alleine kann es nicht.
Hätte denn Julia Stepanowa nach Rio gehört?
Nein. Ich fand diesen Aufruhr mit den Spenden für sie ein bisschen krass. Es sei Julia Stepanowa vergönnt, wenn ihr jemand einen Job anbietet, damit sie ihr Leben finanzieren kann. Ihr Leben ist nicht leicht, aber sie war auch eigennützig genauso wie die Türkin Asli Alptekin, die als Zeugin aufgetreten ist, um vielleicht doch noch die Chance auf Rio zu bekommen.
Fotos: Photo-Studio Büttner in Regensburg
Das Interview führte Max Bosse für die Berliner Zeitung vom 16. August 2016.
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/24595368 ©2016