Sven Matthes sprintet durchs Leben

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Er sprintete die 100 Meter in 10,11 Sekunden, war Hallen-EM-Vierter im Jahr 1988 und nahm an den Olympischen Spielen in Seoul teil. Kürzlich beim ISTAF- Indoor 2015 in Berlin sprach man erneut von ihm, weil sein aktueller deutscher Hallenrekord über 60 m, den er seit dem 13.2.1988 mit 6,53 sec hält, in Gefahr war. Doch noch hält er und Sven Matthes meint: „ Er darf auch noch länger halten, meinetwegen 30 Jahre“.

Man merkt also, wie stolz er auf diesen Rekord ist.
Aber nicht nur Sprint hatte er immer im Kopf. Auch auf seine berufliche Entwicklung legte er viel Wert. Heute lebt und arbeitet der 45-Jährige in Berlin

Erstmals urkundlich als Sprinter erwähnt wurde Sven Matthes 1980, wie er sich heute mit Stolz erinnert. „ Ich wurde in 8,1 Sekunden über 60 m Berliner Meister und lief Berliner Rekord “.

Bernsteinpokal für 10,11 sec

Sven Matthes war anfangs Sprinter und Weitspringer, doch als er zur Kinder-und Jugendsportschule „Werner Seelenbinder“ ins Berliner Sportforum kam, sagte man ihm, daß beides gleichzeitig nicht gehe und man Sprinter brauche, vor allem auch für die Staffel. Matthes, schon immer mit dem Munde vornweg, meinte, daß er das nicht verstehe, denn „ ein Carl Lewis könne doch auch beides“. Doch die Funktionäre setzten sich durch, und als sie später Heike Drechsler erlaubten, beide Disziplinen auszuüben, war es für Matthes für einen Wechsel zu spät. Er blieb also beim Sprint hängen, und das recht erfolgreich, denn immerhin kann er auf eine 100-m-Bestzeit von 10,11 sec verweisen.
Diese Zeit lief er am 22. Juni 1989 in Rostock beim Bernsteinpokal und bekam dafür einen Pokal, weil seine Leistung am nächsten zum Weltrekord lag. Damit war er damals Neuntschnellster in der Welt. Ein Jahr zuvor verfehlte er bei der Hallen-EM 1988 in Budapest nur knapp eine Medaille. Im Finale gewann Linford Christie, aber die folgenden drei Läufer, unter ihnen auch Matthes, warfen sich wie an einer Perlenschnur aufgereiht ins Ziel.

Die Verteilung der Plätze war unklar, aber die DDR-Funktionäre scheuten sich, die 50-Dollar-Gebühr für ein Zielfoto auszugeben. Dabei hätte es dem Berliner wahrscheinlich eine Medaille gebracht. „ Von der rechten Seite sah die Zielkamera mich vorn“, erinnert sich Sven Matthes. „ Von der linken Seite lagen die anderen vorn“. Aber letztendlich wurde er auf den undankbaren medaillenlosen vierten Platz gesetzt. Als Trost versprach man ihm aber in die Hand, daß er bei den Olympischen Spielen in Seoul teilnehmen dürfe, falls die Leistung stimme. Die Leistung im Vorfeld stimmte. Zwischendurch wurde er in Kanada Juniorenvizeweltmeister, und bei den DDR-Meisterschaften in Rostock schlug er in 10,19 sec die erfahrenen Bringmann und Emmelmann. Der Berliner, der für das olympische Einzelrennen als einziger DDR-Sprinter nominiert wurde, schaffte es dann dort bis ins Viertelfinale. Als Augenzeuge erlebte er das spektakuläre Finale über 100 m, das Ben Johnson vor Carl Lewis gewann und die nachfolgende Disqualifikation des Kanadiers wegen Dopings.
Aussichtsreicher wäre nach seinen Worten aber eine DDR-Staffel gewesen. Eine solche Staffel war vor Olympia beim Länderkampf mit der Bundesrepublik in Düsseldorf in der Besetzung mit Matthes, Steffen Bringmann, Olaf Prenzler und Frank Emmelmann in 38,53 sec Jahresweltbestzeit gelaufen.
Doch die Staffel durfte aus politischen Gründen nicht starten, sehr zum Verdruß von Sven Matthes. „ Wir hätten eine Medaille erringen können, denn die Kanadier zogen wegen des gedopten Johnson zurück, die USA verloren den Stab, und die Bundesrepublik, die wir vorher geschlagen hatten, errang Bronze, “ ist Sven Matthes noch heute sauer. „ Man hat mich um meinen Vaterländischen Verdienstorden in Bronze betrogen“ erklärt er leicht schmunzelnd“, „den hätte ich mir heute schön in mein Büro hängen können.“

Aber Sven Matthes sprintete nicht nur, sondern kümmerte sich auch um seine berufliche Entwicklung.

Ziel Hoteldirektor

Manchmal sind private Begegnungen entscheidend und so war es auch bei ihm. Der Chef der Interhotelkette der DDR, Manfred Ackermann, kannte den kleinen Sven schon mit 10 Jahren. Und diese Bekanntschaft nutzte der aufgeweckte Jugendliche später leidlich aus. „ Ich habe gesehen, wie das Metropolhotel am Bahnhof Friedrichstraße aufgebaut wurde, auch im neuen Palasthotel im Ostberliner Stadtzentrum schräg gegenüber vom Palast der Republik bin ich herumgeschwirrt. Weil ich alles so interessant fand, wollte ich später diesen Beruf ergreifen. Hinzu kam, dass ich mir dadurch auch erhoffte, weiter in den Westen reisen zu können“. Manfred Ackermann schlug vor, daß Sven Hotel – und Gaststättenwesen in Leipzig studieren solle. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, Koch zu lernen und sich dann hochzuarbeiten. „ Das aber schien mir zu langwierig.“
Also wollte er studieren, aber für den Leistungssportler und Mitglied beim SC Dynamo Berlin gab es nicht die freie Studienfachwahl. Die Funktionäre meinten, daß sich solch ein Studium nicht mit dem Leistungssport verbinden lasse. Er solle Sport studieren.
Das wollte er zwar nicht, aber er fand einen Dreh: „ Ich willigte ein, Sport zu studieren, wohl wissend, daß es nach einer Studienzusage möglich war, die Fachrichtung zu wechseln.“
Aber dann wurde ihm im System des Leistungssports der DDR die Studienzusage verweigert. Und dann stellte er dieses Sportsystem in Frage, marschierte einfach mit seinen Unterlagen zur Berliner Humboldt – Universität. Er bekam auf Grund seiner Leistungen im Abiturkurs (1,3) eine Studienzusage, nun aber ohne Unterstützung seines Leistungssportes und begann ab 1988 Wirtschaftswissenschaft zu studieren. Welch Zufall: 25 Jahre zuvor studierte der Autor an gleicher Stelle.
Studiert wurde in einem altehrwürdigen Gebäude an der Spandauer Straße, die Mensa bot das Essen in einer Kapelle an. Nur einen Steinwurf entfernt lag das Palasthotel, wo Manfred Ackermann Generaldirektor war, der dort u.a. Gorbatschow zu seiner Suite geleitet hatte und auch im Leben von Sven Matthes wie oben beschrieben eine wichtige Rolle spielte.
Er peilte also zumindest das Kaufmännische für eine Hotelkarriere an. Aber die Hotelträume zerstoben später, denn erstens fiel ein Grund, die Westreisemöglichkeiten, mit dem Fall der Mauer weg und zweitens sah Sven Matthes recht bald die vielfältigen Probleme der Hotelbranche.

Ausklang der Sportkarriere

In den Wendejahren ließ die Sportlust von Sven Matthes langsam nach. 1990 lief er bei der EM in Split nochmals in der Staffel mit, doch im Vorlauf zerstoben die Medaillenträume, als beim letzten Wechsel der Stab verloren wurde.
Sven Matthes entschied sich nun gegen den Sport, mußte seine Wohnung im Internat räumen, wechselte zu seinem alten Trainingszentrum, das nun den Namen „Preußen Berlin“ trug. Zwei Jahre blieb er noch auf der Laufbahn aktiv, doch sein Hauptaugenmerk galt nun vor allem der beruflichen Entwicklung.

Er studierte weiter in Berlin, durchlief beim Finanzleistungsunternehmen SFK (Schaumburger Finanzkontor) in Stadthagen bei Hannover zusätzlich eine Bankausbildung. Dort stieg er auch als Mitarbeiter ein, pendelte zwischen Berlin und Hannover. „ Ich habe richtig Spaß an der Finanzwirtschaft gefunden, mein Studium abgeschlossen“.
Gleichzeitig nahm er dann noch ein Studium der Sozialwissenschaft an der Uni Hannover auf.

Zwischenspiel Philosophie

„ In Hannover habe ich den Philosophen Prof. Dr. Dr. Reinhard Löw kennengelernt, den Direktor des Philosophischen Instituts. Mit dem habe ich über Jahre diskutiert, Manuskripte gelesen. Und er brachte mich auch auf den Gedanken, Sozialwissenschaft zu studieren“. Zwar schloß er dieses Fach dann nicht zu 100 % ab, weil die ständige Pendelei zwischen Berlin und Hannover zu anstrengend war. Aber das Interesse an philosophischen Themen blieb. Er las viele Bücher, sammelte Zitate. Über 1300 Zitate hat er auf Lager, regelmäßig bekommen 500 Leute das „ Zitat des Tages“ per email zu geschickt. „ Irgendwann bleibt man dann auch in den Köpfen der Leute, ohne große Werbung.“

1997 bekam er ein Angebot von der Allianz, absolvierte zahlreiche Lehrgänge, erwarb mittlerweile fünf TÜV-Zertifikate und machte sich selbständig. „ Wir haben eine Bürogemeinschaft in Berlin – Biesdorf, bieten eine breite Palette von Versicherungen bis zur Vermögensverwaltung an. Und wenn man weiß, daß ich das nun schon 15 Jahre mache, weiß man auch, daß ich es nicht so nebenbei mache“.

Zwischen Standardtanz und Motorboot

Doch das Leben des Sven Matthes besteht nicht nur aus Finanzen und Zitaten. Um fit zu bleiben, hat er Squash und Badminton gespielt. Um sich vernünftig auf der Tanzfläche bewegen zu können, belegte er einen Tanzkurs im Standardtanz.
Doch die Geschwindigkeit liegt einem Sprinter wie Sven Matthes im Blut. So kommt ihm sein Hobby, auf schnellen Motorbooten von Freunden über Flüsse und Seen zu rasen, entgegen. Aber nicht nur so, sondern es sind richtige Motorbootrennen, aber nicht im üblichen Sinn. Zwar wird mit schnellen Booten gefahren, auf einer Strecke von rund 150 km. Aber, so führt Sven Matthes als Beispiel an, „ beim sogenannten Poker Run in Ueckermünde geht es nicht um Geschwindigkeit. An bestimmten Stationen bekommt jede Mannschaft einen versiegelten Umschlag mit einer Spielkarte. Am Ende es Tages werden die Umschläge bei einer Veranstaltung geöffnet und das Team mit dem besten Kartenblatt gewinnt.“
Auf dem Oberhaff gibt es beispielsweise keine Geschwindigkeitsbegrenzungen, die Boote fahren dann bis zu 150 km/h. „ Am Steuer bin ich zwar nicht, aber mir reicht der Rausch der Geschwindigkeit. „ Mit zwei künstlichen Bandscheiben muß bei allen diesen Sachen auch der Kopf eingeschaltet werden und die Vernunft siegen.“

11,92 Sekunden mit 41 Jahren

Auch die Verbindung zur Leichtathletik hält Sven Matthes. Vor drei Jahren hat er sich bei der LG Nike Berlin eingebracht, unterstützt dort die Jugendarbeit und fungiert als Präsident im Förderverein.

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Die 100 m in Spikes gerannt ist er zuletzt 2010. „ Ich habe dafür drei Monate dreimal in der Woche trainiert, und rannte mit 41 Jahren immerhin 11,92 sec.“ Aber ein geplanter Start bei den Seniorenmeisterschaften fiel ins Wasser, weil er einen Unfall im Haushalt hatte und sich im Mai 2011 die Kreuzbänder am rechten Knie riß. Nun sind die neuen Kreuzbänder drin, und Sven Matthes mobil wie eh und je. Nur ein wenig zuviel Gewicht trägt er noch mit sich herum. „Bei 1,88 m sind 98 kg rund 12 kg zuviel“, meint er.

Peter Grau

(siehe auch Leichtathletik Nr. 39/2012)
http://www.markenverlag.de/index/46/63/LEICHTATHLETIK/Abonne-ment