Archiv für den Tag: 8. Juni 2016

Die Speere fliegen – Matthias de Zordo ist wieder dabei

Die deutschen Speerwerfer lassen ihre Speere in diesem Jahr bisher sehr weit fliegen. Allen voran Thomas Röhler (LC Jena), der gegenwärtig (Stand 8. Juni 2016) die deutsche Jahresbestenliste mit 87,91 m anführt. Gefolgt wird er von Lars Hamann (Dresdner SC 1898 / 85,67 m) und Johannes Vetter (LG Offenburg / 84,38 m). Alle drei Athleten haben die für Olympia geforderte Norm von 83,00 m gepackt. Dahinter gruppieren sich Julian Weber (USC Mainz / 82,69 m) und Andreas Hofmann (MTG Mannheim /82,47 m) ein. Bernard Seifert (SC Potsdam) hat bisher 79,34 m geworfen und, – um ihn geht es in dieser Geschichte -, Matthias de Zordo hatte nach den 3 ungültigen Versuchen von Dessau nun am 4. Juni in Jena das erste kleine Erfolgserlebnis von 76,89 m.  Nicht weit eben und beileibe zu wenig im Kampf mit den anderen, aber eben ein Hoffnungsschimmer.

Am 27. Mai in Dessau, als noch vieles schief lief, sprach Michael Reinsch hinterher mit ihm. Lesen Sie Auszüge aus seinem Beitrag vom 4. Juni 2016 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ):

Matthias de Zordo: Der Speerwerfer mit Killer-Instinkt

Matthias de Zordo klein klein Autogrammkarte

Speerwerfer Matthias de Zordo ist wieder da, und er ist besser denn je. Nun gut, nach drei Fehlversuchen im ersten Wettkampf seit drei Jahren Verletzungspause war in Dessau erst einmal Schluss für den einstigen Weltmeister. Aber das lag nicht daran, dass er schlecht gewesen wäre. „Ich bin um einiges schneller angelaufen als im Training“, erzählt er, „die Beine sind besser gelaufen als erwartet.“ Und dann war er auch schon übergetreten. De Zordo verlängerte den Anlauf. „Im zweiten Versuch war ich noch schneller als im ersten.“ Wieder übergetreten, wieder ungültig. Aber der Speer flog, und er flog über die 75-Meter-Markierung hinaus. Auch der dritte Anlauf war so schnell, dass de Zordo sich nach dem Stemmschritt nicht zurückhalten konnte. Damit war der Wettkampf beim Anhalt-Meeting am 27. Mai 2016 in Dessau für ihn auch schon zu Ende.

Matthias de Zordo ist ein Beispiel dafür, dass jemand tatsächlich 110, 120 Prozent leisten kann.

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Matthias de Zordo 2010 bei der DM in Braunschweig (Foto: Dirk Gantenberg)

Als er 2010 aus heiterem Himmel Zweiter der Europameisterschaft von Barcelona wurde, als er bei der Weltmeisterschaft von Daegu im Jahr darauf überraschend auch noch den Titel holte, da erzählten Trainer und Mannschaftskameraden immer wieder, dass de Zordo nicht die besten Kraftwerte habe, nicht die besten Trainingsleistungen bringe, aber über einen Killer-Instinkt verfüge. „Das ist mal Neuland“, sagte der inzwischen 28 Jahre alte Athlet in Dessau, „dass ich im Training besser bin als im Wettkampf.“

Von einem Killer hat de Zordo so gar nichts, wie er in Dessau aus dem Stadion zur Wurstbude schlurft, wie er hier angeregt plaudert und dort freundlich schwätzt. Ganz offensichtlich genießt er es, wieder Athlet unter Athleten zu sein. In den vergangenen drei Jahren war de Zordo vor allem Patient und Rekonvaleszent gewesen. Bei den Olympischen Spielen von London 2012, wegen einer langwierigen Verletzung ohne Qualifikation nominiert, erreichte der Weltmeister nicht einmal das Finale; alle drei schlechten Versuche machte er ungeschehen, indem er absichtlich übertrat.

Nach Achillessehnenriss zwei Jahre Rehabilitation

Als er im Mai 2013 bei den Werfertagen von Halle an der Saale die neue Saison begann, ging ihm der Speer wieder nicht so leicht von der Hand, wie er das erwartet hatte. Er quälte sich mehr schlecht als recht durch den Wettkampf, und als er beim fünften Versuch den Speer mit Gewalt in eine Flugkurve zwang, riss ihm beim Stemmschritt mit dem rechten Bein die Achillessehne. Wer dabei war, wird den Schrei des verwundeten Athleten nie vergessen. De Zordo rettete sich in einen Purzelbaum, dann blieb er liegen. Zwei Jahre dauerten Rehabilitation und Aufbau – dann klemmte er sich im Ellbogen seines Wurfarms, des linken, einen Nerv ein, der sich auch noch entzündete. Das nächste Jahr ging verloren.

Nun also ist der Champion von gestern zurück, und er hat keine Eile, sich und der Welt zu beweisen, dass er immer noch ein überragender Athlet ist. Mit 28 Jahren ist de Zordo jung genug für mindestens noch einen olympischen Zyklus. Für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro ist er in dem Moment qualifiziert, in dem sein Speer 83 Meter weit fliegt. (d.h. nur dann, wenn er sich gegen starke deutsche Konkurrenz durchsetzt. P.Gr.)

Das ist ein großer Wunsch und auch erhofft, dass ich mitfahre nach Rio“, sagt de Zordo. „Aber mein Ziel ist es, mir nicht groß Druck zu machen. Ich will Anschluss finden, ich will ein positives Jahr haben, auf das ich aufbauen kann.“ Nicht Olympia ad hoc zählt, sondern die Perspektive.

Das ist der de Zordo, der seinen Sport ausübt wie eine Kunst. „Für mich ist Speerwurf ein Gefühl“, sagt er. „Ich muss die Bewegung spüren, den Speer, den Anlauf, wie ich vorn reingehe – und vor allem, wie die Spannung über die Brust kommt.“ In seinen Würfen wirkt ein unerklärliches, ein unkalkulierbares Element. Der Werfer wächst hinaus über den Sportler, der Tag für Tag Speerwurf trainiert. Sobald der Speer die Hand verlässt, weiß de Zordo, ob dies ein guter Wurf ist oder nicht. Die Weite ist die Bestätigung dessen, was er längst weiß.

Die Verletzung ereilte de Zordo just, als er aus dem Saarland nach Magdeburg umgezogen war und die Arbeit mit einem neuen Trainer begonnen hatte, Ralf Wollbrück. Drei Jahre lang haben sie daran gearbeitet, die Form von 2010 und 2011 wieder zu erreichen und vor allem Vertrauen in die Achillessehne zurückzugewinnen. Ständig habe er in den Körper hinein gehorcht, erzählt de Zordo, habe sich gefragt: Ziept es hier, ist dort alles in Ordung? „Ich kann normal sprinten, normal springen, normal stemmen“, sagt er nun. „Es ist schön zu wissen: Der Kopf ist frei.“

„Das Glück kommt, wenn ich mal eine Weite stehen habe“

88,36 Meter weit warf de Zordo 2011, in dem Jahr, in dem er Weltmeister wurde. Noch ist er mehr als zehn Meter von dieser Bestleistung entfernt. Thomas Röhler, sein thüringischer Konkurrent, hat es in der jungen Saison schon auf 87,91 Meter gebracht; im vergangenen Jahr gewann der Kenianer Julius Yego die Weltmeisterschaft mit 92,72 Metern. „Ich habe noch nie das Gefühl gehabt, dass ich am Limit bin“, sagt de Zordo. Ist es ein Glück, wieder werfen zu können? Da wird aus dem Genießer des Augenblicks ein rationaler Athlet. „Das Glück kommt“, sagt er, „wenn ich mal eine Weite stehen habe und nicht drei ungültige Versuche.“

Michael Reinsch, FAZ-Korrespondent für Sport in Berlin

(aus Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Juni 2016)