Nachdem ich im April 1987 den Hamburg-Marathon, meinen ersten Marathon im Westen, gelaufen war, freute ich mich schon auf den nächsten „Schlag“ im Jahre 1988. Und wieder war ich meinem Onkel Karl dankbar, daß er im Mai Geburtstag hatte. Einmal war ich dankbar, daß er schon so alt war und damit in das Kapitel „ Reisen bei dringenden Familienangelegenheiten“ fiel. Nur so war es für mich, der ich ja mit 48 Jahren noch weit vom Rentenalter entfernt war, möglich, den legalen Schritt über die Grenze zu tun und in die Bundesrepublik zu reisen. Dankbar war ich auch, daß mein Onkel seinen Geburtstag in der marathonfreundlichen Zeit Anfang Mai feierte.
Kleine Hürden vor der Westreise
Wie immer mußte ich vorher für die Genehmigung einer Westreise einige Befürworter haben, so im Betrieb oder im Haus. Aber da ich mich nie renitent benahm, bekam ich auch von überall nur „gute Zensuren“. Erinnern kann ich mich noch, daß ich dann meinen Antrag für eine Besuchsreise in der Meldestelle der Volkspolizei in der heutigen Möllendorff-Straße in Berlin-Lichtenberg „verteidigen“ mußte. Als ich nebenbei erwähnte, daß ich mit einer Erbschaft eines anderen Onkels rechnen würde und auch deshalb „rüberfahren“ müßte, sprang man darauf an. Ich hatte einen weiteren Pluspunkt gesammelt.
Und dann der Tag des Glücks: Ich erhielt meine Reiseerlaubnis. Es konnte losgehen.
Sicherlich sind meine Erinnerungen etwas vage, aber da kann ich ja wieder einen Brief ins Spiel bringen, den ich hinterher meiner Mutter geschrieben habe und den ich wörtlich wiedergebe:
Liebe Mutti! Berlin, d. 22.5.88
Ein kurzer Bericht über meine zweite Reise quer durch die Bundesrepublik. Am Montag (25.4.) bekam ich die Genehmigung, am Mittwoch (27.4.) abends 21 Uhr war Abfahrt des Zuges von Berlin-Friedrichsstraße. Ich hatte wieder, wie im Vorjahr, die Fahrkarten nach Konstanz gelöst. Im Zug bekam ich die Liegewagenplätze für unser Ost-Geld (30.-), das zahlte sich später mit einer ruhigen Nacht aus. Am Bahnhof Zoologischer Garten kamen ein Westberliner und ein Marokkaner in mein Abteil und wir unterhielten uns lange. Der Westberliner macht seit drei Jahren Urlaub in Marokko. Nun wollte er nach Stuttgart, um sich dort einen gebrauchten Mercedes zu kaufen. Im Zug habe ich erstmals in meinem Leben gut und lange geschlafen, mit einer Schlaftablette und Oropax in den Ohren zur Lärmdämmung. Kam ausgeruht in Stuttgart an. Am 28.4. Stadtbummel, dann nachmittags nach Ostfildern gefahren, um dort ab 17 Uhr mit meinem Lauffreund Werner Sonntag 11 km auf seiner Hausstrecke zu laufen. Anschließend Abendessen bei ihm.
Treff mit Werner Sonntag (rechts) viele Jahre später nach einem Berlin-Marathon (den nur Werner lief)
Am Samstag (30.4.) erlebte ich auf einem 10.-DM-Stehplatz im Neckarstadion das Fußballspiel VfB Stuttgart-HSV, das Stuttgart 5:1 gewann.
(Damals konnte ich nicht ahnen, daß ich fünf Jahre später an gleicher Stelle als Journalist bei der Leichtathletik-WM 1993 dabei sein würde!).
Am 2. Mai früh nach Esslingen gefahren, dort das Begrüßungsgeld in Höhe von 130.- DM abgeholt. Anschließend Jeans (29.-) gekauft, durch den Ort gebummelt, beim Bäcker für 2,20 DM einen Kaffee plus Erdbeerschnitte verkonsumiert. Mittags wieder nach Stuttgart zurückgefahren, dann wieder nach Esslingen. Kaffee bei Onkel Karl (mit Frau Geißer), dann mit deren Auto mitgefahren nach Berkheim. Dorthin kamen auch Franz, Lisbeth, Wolfgang und diverse Verwandte, um Onkel Karls Geburtstag zu feiern.
Am 3. Mai gegen 14 Uhr nach Konstanz weitergereist. Dort eine Stunde in der Stadt gebummelt, dann von Gerhard abgeholt. Abends lange unterhalten. Am 4. Mai vormittags am Bodensee gelaufen, mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Herrlich! Dann wieder Stadtbummel mit Gerhard, mittags zusammen mit Sohn Ullrich griechisch essen gewesen. Abends fuhren wir per Bus zurück. Ich ging dann auf die Fähre, fuhr über den Bodensee und sah mir Mersburg an.
Am 5. Mai fuhr ich zurück nach Stuttgart. Am 6.5. hatte ich mich für 9 Uhr mit Werner Sonntag am Hauptbahnhof verabredet, gegen 11.30 Uhr waren wir in München. Dort bummelte ich allein durch die Stadt bis zum Marienplatz und fuhr per S-Bahn Richtung Olympiagelände. Dort holte ich meine Startnummer ab.
Ich lief unter dem Pseudonym Walter Becker, weil ich nicht extra die DDR-Behörden darauf aufmerksam machen wollte, daß ich in München gelaufen bin, obwohl es ja nicht verboten war. Aber da hatte ich die Rechnung ohne die Stasi gemacht, die mich schon seit dem Hamburg-Marathon im Visier hatte.
Ich sah mir jedenfalls alles an (nur das Stadion noch nicht), spazierte später zurück zum Bahnhof. Dann rief ich Heiko, den Münchner, an. Der holte mich dort ab, und dann fuhren wir zu seiner Wohnung und noch in eine Gaststätte. Ich hatte ein kleines Zimmer für mich und fühlte mich wohl. Am 7. Mai machten wir einen gemeinsamen Einkaufsbummel, fuhren nochmals zum Olympiagelände, abends in eine wienerische Gaststätte.
Dann kam der 8. Mai, der Tag des München-Marathons. Früh fuhren wir zum Olympiagelände. Vor dem Parkgelände gab es einen Stau, sodaß ich aussteigen mußte und Heiko wieder nach Hause fuhr. Er konnte den Marathon leider nicht mitlaufen, weil er verletzt war. Ich bewegte mich in ruhigem Tempo, weil ich noch genügend Zeit bis zum Start hatte, zur Olympiaschwimmhalle, zog mich dort um und gab meinen Kleider-Beutel ab. Um 9 Uhr war der Start, immer in 1000-er Gruppen. Es war wieder ein sehr berührendes Gefühl, bei solch einem Riesenlauf mit 8000 Teilnehmern dabei sein zu dürfen. Und ich war sehr traurig, daß nicht alle meine Berliner Lauffreunde das erleben durften.
Die Strecke führte quer durch München, an vielen bekannten Bauwerken vorbei. Besonders schön war es am Marienplatz, denn zum einen kannte ich diesen Platz schon und zum anderen bildeten die Zuschauer ein dichtes Spalier und spendeten viel Beifall. Später wurde es nach 30 km schwerer für mich, kein Wunder bei den vergangenen aufregenden zehn Tagen. Heiko kam laufenderweise auch mal im Englischen Garten an die Strecke. Ich war froh, als ich wieder den Olympiaturm sah. Das Ziel war also nicht mehr weit. Bei 40 km feuerten uns die Zuschauer nochmals gewaltig an, und dann kam der Höhepunkt. Zuerst lief ich im Glücksgefühl durch den Stadiontunnel ins Stadion ein, dann ließ ich dieses herrliche Stadion auf mich wirken. Nur noch 100 m waren es bis zum Ziel, und dann, nach 3:32:19 h war ich im Ziel. Glücklich bekam ich die Medaille und eine Urkunde überreicht.
Später zog ich mich in der Schwimmhalle um. Geschwommen bin ich nicht, weil ich meine Badehose vergessen hatte. Mit Heiko traf ich mich später, auch Werner Sonntag stieß zu uns. Er brauchte 3:45 h, war aber auch glücklich. Ab 16 Uhr ging es per Auto mit Werner Sonntag zurück nach Stuttgart. Er brachte mich bis zu meiner Tante Gerda nach Stuttgart-Feuerbach. Am 9. Mai machte ich die letzten Einkäufe, nachmittags verabschiedete ich mich von der Stuttgarter Königsstraße. Am 10. Mai frühmorgens 7.06 Uhr fuhr ich dann zurück, wurde in Berlin von beiden Töchtern und einem Laufkumpel per Auto abgeholt.
Nun setze ich auf den 90. Geburtstag von Onkel Karl im Jahr 1989. Marathon kann sehr schön sein!
Soweit der Brief an meine Mutter.
Und er beweist ein wenig, wie wir wenigen Glücklichen, die damals schon legal solche Reisen unternehmen durften, das genossen und viel erlebt haben. Wie einfach ist das alles heutzutage.