Es liegt 30 Jahre zurück, aber auch nach dieser langen Zeit kann ich mich noch gut daran erinnern. Die Unzufriedenheit mit den Zuständen in der DDR nahm damals immer mehr zu, der Drang nach Veränderungen wuchs. Nicht jeder traute sich, offen aufzubegehren, viele hatten sich mit den Gegebenheiten arrangiert und sich eigene Nischen geschaffen.
Ich schwebte gewissermaßen zwischen Baum und Borke. Zufrieden war ich mit manchem in der DDR nicht, obwohl ich mit meiner Laufleidenschaft eine Nische gefunden hatte, die mir vieles erleichterte. Offen Widerstand leisten wollte ich nicht, mein Leben bei einem Fluchtversuch riskieren ebenso nicht. Außerdem hatte ich ja auch Familie und wollte und konnte sie nicht im Stich lassen. Im Nachhinein müßte ich Selbstkritik üben, daß ich mich nicht traute, wenigstens in die Kirchen zu gehen und dort den Widerstand zu stärken.z
So war es für mich schon mutig, mich am 4. November 1989 in die U-Bahn zu setzen und zur großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz zu fahren. Doch inmitten der Massen brauchte ich dann wenig Mut, zumal die Kundgebung ja vom Staat genehmigt war. Und es gehörte auch wenig Mut dazu, solchen Rednern wie Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Friedrich Schorlemmer oder Marianne Birthler Beifall zu spenden, die Mißstände im Staat anprangerten und Veränderungen anmahnten, vor allem Pressefreiheit, Reisefreiheit und freie Wahlen forderten. Noch gut kann ich mich an die Worte der Schauspielerin Steffie Spira erinnern: „lch wünsche für meine Urenkel, daß sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde, und daß keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen.“
Bei den SED-Rednern Gregor Gysi, Lothar Bisky oder Günter Schabowski bewunderte ich, daß sie sich vor einer solchen Masse überhaupt auf die Bühne wagten und riskierten, ausgelacht und ausgebuht zu werden. Aber diese drei Redner gehörten eher zu den Hoffnungsträgern, die die Probleme nicht leugneten, sondern nach Lösungen suchten, um die Leute bei der Stange zu halten und vor allem den täglichen Strom der Flüchtlinge in den Westen aufzuhalten. Fast paradox, daß einer von ihnen, Günter Schabowski, fünf Tage später auf einer Pressekonferenz bei der Ankündigung einer neuen Reiseverordnung eher ungewollt auf die Frage, wann diese Verordnung denn eintrete, erklärte: „ „Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“.
Dabei war, wie sich später herausstellte, für die Verlautbarung eine Sperrfrist angegeben: 10. November 4 Uhr.
Sei es wie es sei, dieser eine Tag früher oder später ist im Nachhinein unerheblich. Fakt ist, daß die Mauer fiel, viel schneller, als auch die 500.000 auf dem Alexanderplatz gedacht hatten.
Straßendemo zum Palast der Republik
Viele von ihnen schlossen sich nach der Kundgebung dem Demonstrationszug an, der vom Alexanderplatz zum Palast der Republik und zurück bis zur Münze am Molkenmarkt führte. Auch hier sprang ich über meinen Schatten, reihte mich direkt hinter dem Kaufhaus in den Zug ein und war darüber später mächtig stolz. Diszipliniert spazierten wir die Karl-Liebknecht-Straße entlang, vorbei an der Marienkirche, über die Kreuzung Spandauer Straße, nur wenige Meter entfernt vom Gebäude der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, wo ich von 1961 bis 1965 studiert hatte, und dann vorbei am Berliner Dom. Es war fast wie ein Marsch am 1. Mai, nur ohne Fahnen, aber mit vielen Transparenten und eben einer ganz anderen Zielrichtung. Etliche dieser Schilder waren dann auf der Empore des Palastes der Republik aufgestellt worden und schmunzelnd und zustimmend von den Vorbeiziehenden zur Kenntnis genommen. Vor wenigen Wochen wären solche Schilder nicht erlaubt worden. Doch jetzt schien vieles möglich.
Ich aber trabte mit der Masse weiter, voll der vielen Eindrücke und mit der Frage auf den Lippen: Wo wird das enden? Es endete bald, viel schneller, als sich alle gedacht hatten. Die Demonstration am 4. November 1989 war ein wichtiger Schritt zur baldigen Öffnung der Mauer am 9. November und der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands.
Peter Scheerer