Die letzten Tage im März 1945 als Soldat an der Ostfront

Bisher wußte ich nicht viel darüber, wie es meinem Vater Walter Grau während seines Einsatzes an der Ostfront ergangen ist. Zwar fand ich einige Fotos aus seiner Wehrmachtszeit, aber ansonsten hatte ich von meiner Mutter nur wenig über Vaters Schicksal erfahren. Auf meiner Homepage  habe ich  unter  http://www.petergrau-leichtathlet.de/?p=9309   geschrieben, was ich vom Volksbund  Deutsche Kriegsgräberfürsorge über den Verbleib meines Vaters erfahren habe.

Walter in Mor und Seregelyes

Nun aber kommt etwas mehr Licht ins Dunkel. Beim Aufräumen fand ich jetzt einen Brief meiner Cousine Ute, den sie mir am 20.3. 1998 geschickt hat und der einige Papiere enthielt, die die Bemühungen meines Onkels Karl (damals wohnhaft in Neustadt bei Coburg) zeigten, das Schicksal seines Bruders aufzuklären, u.a. durch Anfragen beim Roten Kreuz.

Vor allem zwei längere Briefe schilderten die letzten Tage meines Vaters, wobei beide Berichterstatter im Nachhinein doch alles recht unterschiedlich empfanden. Aber ich kann ein wenig nachfühlen, wie schwer es ist, ein solch einschneidendes Erlebnis, das einen wohl ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat, einigermaßen genau zu schildern.

Im März 1945 in Mor/Ungarn

Walter Karte Mor

Mor liegt zwischen Budapest und dem Balaton

Zunächst fand ich den Brief von Herbert Müller (Burkhardtsdorf im Erzgebirge),  geschrieben am 11.11.1945 an meine Mutter.

„Gern will ich Ihnen schreiben, was ich von Ihrem Gatten weiß, da ich der Letzte der Batterie war, der mit ihm zusammen war.

Mitte März 1945 lagen wir in Mor in Ungarn. Wir, das war unsere Batterie, aufgeteilt in zwei Kampftrupps, zu je zwei 8,8 und 3,2 cm-Geschützen und dem Infanteriezug. Wir waren am Ortseingang und am Ortsausgang zur Sicherung gegen feindliche Panzer- und Infanteriekräften eingesetzt.  Den ersten Kampftrupp führte Ihr Gatte. Es war am 18. März gegen 11 Uhr, als sein Kampftrupp erste Feindberührung hatte, nachdem ich kurz zuvor dort mit dem Infanteriezug eingetroffen war. Nach einem ca. einstündigen Feuergefecht, das auf beiden Seiten zahlreiche Opfer forderte, ging bereits die Munition bei uns zur Neige. Wegen des immer mehr wachsenden Personalausfalls und der gegnerischen Übermacht waren wir gezwungen, nachdem alle Munition verschossen war, die Fahrzeuge und Geschütze zu sprengen. Es wird so um 13 Uhr gewesen sind, als plötzliche Ruhe eintrat. Ich hatte bis dahin, hinter einer Böschung liegend, die feindliche Infanterie beobachtet und bekämpft. Da erschrak ich wegen einer plötzlichen Detonation in meiner Nähe und sah in die Richtung eines 8,8 cm-Geschützes, welches Ihr Gatte soeben gesprengt hatte. Er rief mir zu, daß es höchste Zeit sein, abzurücken. Da merkte ich erst, daß wir zwei die Einzigen von unserem Kampftrupp waren. 100 Meter von uns entfernt zogen in Richtung Friedhof die letzten unserer Kameraden, die Verwundete mit sich trugen. Während Ihr Gatte als Waffe nur eine 6,35 mm-Walther-Pistole trug, hatte ich noch eine Maschinenpistole mit 8 Schuß. Aber diese Waffe hatte eine Ladehemmung, die ich nicht beheben konnte. Geduckt rannten wir über die Straße, durch ein Gartentor in einen Hof und standen dann auf einem freien Gelände. Weil wir uns dort nicht auskannten, wählten wir den Weg hinter den Häusern längs der Straße A, bis wir an einen Erdhügel kamen. Dort verschnauften wir erstmalig, sprachen kurz miteinander und sahen uns nach allen Seiten um. Hier merkte ich, daß Ihr Gatte am rechten Unterarm leicht verwundet war. Dabei erblickte ich plötzlich in ca. 120 m Entfernung drei russische Gruppen von jeweils 5 bis 15 Mann. Ich erklärte deshalb Ihrem Gatten, daß es Unsinn sei, in der geplanten Richtung weiterzulaufen, zumal meine Maschinenpistole nicht mehr funktionierte. Während ich mich umdrehte und nach hinten schaute, um nicht von dort überrascht zu werden, rief mir Ihr Gatte zu, daß ich kommen solle. Ich lief ihm nach und rief zweimal, daß er zurückkommen solle. Da mittlerweile Bewegung in die Russen kam, rannte ich zurück längs der Straße B, an deren Ende ich plötzlich Soldaten sah, deren Nationalität ich nicht erkennen konnte. Da es für mich sowieso keine andere Wahl gab, rannte ich auf sie zu und war froh, daß es einige Kameraden meiner Batterie waren. Ihren Gatten habe ich seit jenem Tag nicht mehr gesehen“.

Soweit diese Schilderung, deren Kern ich so immer im Gedächtnis hatte.

Walter in Uniform eins

 

Interessant ist auch,  was im zweiten  handschriftlichen Brief eines seiner Kameraden stand, zumal dort die Märztage doch etwas anders dargestellt wurden.

Johann Franz, Führer des 1. Kampftrupps der 2. Batterie des Flak-Regiments 231,  schrieb am 12. Juni 1963:

Die letzten Tage des Einsatzes von Walter Grau sind schnell erklärt:

Walter hatte die Führung des 2. Kampftrupps und ich die des 1. Kampftrupps der 2. Batterie. Die Front war in den Märztagen des Jahres 1945 in völliger Auflösung. Wir versuchten mit unserer 2. Batterie als einer der wenigen noch intakten, mit enormer Feuerkraft ausgestatteten 8,8 cm-Batterie, das Chaos für die Landser zu mildern. Aus diesem Grunde erreichten wir eine Zurücknahme unserer HKL (Hauptkampflinie) nach Mor. Der Rückzug war notwendig, weil ich einige Tage zuvor bei einer bewaffneten Aufklärung festgestellt hatte, daß der Russe nachts mit scheinbar aufgelösten Verbänden durch unsere losen Linien gestoßen war. Dies wollte mir leider damals keiner glauben, vor allem, unter welchen Umständen das geschah. Aber es würde zu weit führen, über alle Einzelheiten zu berichten.

Die Rücknahme der Hauptkampflinie nach Mor war schon unter diesen Umständen ein Erfolg. Sie hätte allerdings noch fünf Kilometer weiter zurückgenommen werden müssen, und alles wäre uns erspart geblieben. Hauptmann Paul Jodeit war ein großartiger Kamerad, der mir ob meiner großen Erfahrungen großzügige Freiheiten ließ. Das war auch der Grund, weshalb ich mit Walter zusammen die Stellung aussuchte (in der er dann gefallen ist). Wir beide versuchten drei Tage lang, die  Westseite des Städtchens Mor mitsamt Umgebung aufzuklären, um für meine Beobachtungen den Beweis zu erbringen. Wir beiden brachten diesen Beweis.

Große Truppenkontingente mit 7,62 mm Pak ( Panzerabwehrkanone) und ganze Granatwerferkompanien der Russen hatten sich hinter unserer Front eingegraben. Dieser Beweis brachte die ahnungslosen Stäbe in Mor völlig durcheinander. Walter und ich machten uns nun daran, diese einzelnen, gut getarnten Granatwerfer und Pak-Nester, die uns in aller Ruhe in Stellung ziehen ließen, „ohne zu knallen“, in harten Nahkämpfen, teil in den Weinbergen, auszuheben. Wie wollten uns auf einen eventuellen Stellungswechsel „ohne Verluste“ vorbereiten. Das wäre uns auch gelungen, ja wenn!!

Wie schon erwähnt, waren die Stäbe der verschiedensten Truppenteile in Mor stationiert. Denen mußten wir nun den Rücken sauber halten und konnten nicht nach den von uns gewonnenen Erkenntnissen handeln. Walter und ich arbeiteten uns Tag und Nacht an neue Stellungen der Russens heran und spielten uns so aufeinander ein, daß jeder die Handlung des anderen ohne Worte erkannte. Es war großartig, soweit im Krieg überhaupt etwas großartig sein kann. Wir freuten uns schon, daß wir die größte Gefahr von unseren Männern ferngehalten hatten.

Dann aber kam der große Knall! Der Russe hatte im letzten Moment erkannt, daß  unsere ganzen Stäbe sich aus der Stadt absetzen wollten und griff nun mit ungeheurem Elan von drei Seiten an. Wir kämpften – jetzt jeder bei seinem Kampftrupp-, gegen die große Übermacht und hielten so lange aus, bis die spärlichen eigenen Infanterieverbände in den anschließenden Stellungen links und rechts von unserem Abschnitt niedergemacht waren. Wie Sie sich denken können, kam jetzt der Stoß des Gegners von hinten und von vorn auf uns zu. Walter wurde zuerst überrannt. Nachdem das letzte 8,8 cm-Geschütz ausgefallen war, kämpfte er mit der Pistole im Nahkampf weiter, bis alles, was sich von seinem Kampftrupp noch wehrte, niedergeschossen war.

Wir wollten vom Friedhof her im Gegenstoß  die Häuser säubern und Walters Kampftrupp erreichen, um sie noch herauszuholen. Bis zum Kampftrupp sind wir durchgebrochen und dabei fanden wir Walter mit seinen Männern. Helfen konnten auch wir nicht mehr. Mit ganz wenigen Männern konnten wir uns dann zwischen den Russen hindurch herauskämpfen.

Das war die Geschichte von den letzten Tagen Ihres Bruders Walter, die Sie besser – außer der Gewißheit seines Todes, nicht erfahren hätten. Aber wie sollte ich Ihnen sonst die letzten Tage ihres Bruders beschreiben? Zumal Sie ein Mann sind und mittlerweile 18 Jahre vergangen sind. Seiner Gattin hätte ich all diese Umstände nicht mitgeteilt. Dabei habe ich Ihnen nur einen kurzen Eindruck von dem heillosen Durcheinander geben können.

Walter war damals in meinem jetzigen Alter (42 Jahre) und hat alles in seiner ruhigen, besonnenen Art kommen sehen. Wir beide haben mit Paul Jodeit alle Chancen für unsere Truppe überlegt, aber was galten die Überlegungen gegen die Befehle von oben…

Mit freundlichen Grüßen   Ihr Johann Franz.

 

Soweit die beiden Berichte über die letzten Tage meines Vaters Walter Grau

So schmerzlich das alles ist, so sehr bin ich jetzt froh, daß ich wenigsten einigermaßen Gewissheit bekommen habe. Andererseits besteht kein Zweifel:  Solche Kriegsberichte, die es ja millionenfach gibt, gewinnen eine ganz andere Dynamik, wenn sie einen ganz nahen Verwandten, eben den Vater, betreffen. Und sie zeigen, wie schrecklich dieser Krieg gewesen ist.

Peter Grau