Berlins Läufer feierten den Jahreswechsel 1989/1990

Das war speziell für uns Läufer ein ganz besonderer Jahreswechsel. Nur wenige Monate zuvor war die Mauer gefallen, die gerade für uns Berliner ständig sichtbar gewesen war. Läufer aus Ost und West hatten danach wenig Berührungsängste. Sichtbar vor allem beim 1. Gesamt-Berliner Neujahrslauf.
Auch in der Zeitschrift „ Der Leichtathlet“ wurde das gebührend gewürdigt. Für alle, die damals dabei waren, „drucke“ ich nochmals die Seiten 2 und 3 der Ausgabe vom 12. Januar 1990 ab. Für all diejenigen, die damals noch nicht dabei waren, weil sie zu weit von Berlin entfernt wohnten oder aber noch gar nicht geboren waren, stellt es ein Zeitdokument dar.

Neujahrslauf 1989-1990

Das war ein Lauf-Grand mit Vieren in Berlin

Erster Akt

Wie jedes Jahr lockte auch heuer der Silvesterlauf in den Plänterwald. Zum zweiten Mal mit viel Engagement und Geschickt von der BSG Motor Lichtenberg organisiert, wurde es diesmal wieder ein Supererfolg. Anfangs, bei der Anmeldung im neuen Organisationsbüro an der Eichbuschallee, rollte es zwar nur langsam an, aber – wie oft haben wir es schon bemängelt-, der einzige Grund dafür lag in den überreichen Nachmeldungen. Kurzentschlossen verkündete Organisationsleiter Jürgen Stark die viertelstündige Verlegung der Startzeit, und dann hatten endliche alle 650 Teilnehmer ihre geschmackvollen Startnummern.
Kühl waren die Temperaturen, doch die Fröhlichkeit der Aktiven schwappte auch auf die Zuschauer über. Der für kurze Zeit zum „Bezirksschornsteinfegermeister“ ernannte Werner Pohl konnte nach den üblichen guten Wünschen für den Jahreswechsel per Silvesterknaller den Startschuß für die 5-und 10-km-Wettkämpfer freigeben. Bunt das Feld und nicht zu übersehen die zahlreichen Gäste aus westlichen Gefilden. Auch Prominenz ließ sich sehen, so Marathonspezialistin Kerstin Pressler vom Westberliner LAC Halensee, die nach 34:55 min als erste Frau das Ziel vor der Ostberlinerin Rosemarie Kössler erreichte und sich sichtlich wohl im Kreise ihrer neuen Lauffreunde fühlte. …
Auf Streckenerkundung auch Manfred Steffny, zweifacher Olympiateilnehmer im Marathon und seit langem Chefredakteur der bundesrepublikanischen Laufzeitschrift „spiridon“. Nach einer 5-km-Runde in rund 20 Minuten – ein für ihn normaler Schnitt, denn erst kürzlich lief er 2:48 h im Marathon- war er von der Plänterwaldrunde recht angetan. Sicher hatten dazu auch die fleißigen Helfer des Veranstalters beigetragen, die den Kurs sorgsam gefegt und begradigt hatte.
Manfred Steffny war aber nicht allein an der von weither angereisten Journalistenfront. Auch der Chef der BRD-Läuferzeitschrift „Condition“, Michael Schläbitz, und Thomas Steffens vom Schweizer „Läufer“ nahmen Kontakte zur DDR-Laufszene auf…

Zweiter Akt

Am Nachmittag des Silvestertages zog es dann insgesamt 1555 Aktive nach Westberlin, der SC Charlottenburg hatte zum 14. Berliner Silvesterlauf eingeladen. Reizvoll ist dieser Start für rund 350 Teilnehmer aus der DDR, auch wenn ein harter Kanten bevorstand.
Doch da konnte man vorbeugen, denn es standen Distanzen von 6,8 km, 11,2 km, 15,6 km und 20 km zur Auswahl. Im Mommsenstadion befand sich das Organisationsbüro, vor dem Stadion wurden die Massen in Bewegung gesetzt.
Auch hier wie am Vormittag im anderen Teil der Stadt war manch Silvesterkostüm zu sehen und vor allem Stimmung zu spüren. Über die Harbigstraße ging es Richtung Teufelsberg, dem Aufstieg zur Radarstation folgte dann der kräftezehrendere zum Drachenfliegerberg. Doch leider wurde die Stimmung dadurch gedämpft, daß es schwierig war, den richtigen Weg zu finden. Streckenmarkierungen fehlten bzw. wurden von Antisportlern verändert. Die wenigen Streckenposten waren überfordert. Aber der Veranstalter hat das Problem erkannt, im nächsten Jahr wird ihm das hoffentlich nicht wieder passieren. Und es zeigt sich, daß es auch auf diesem Gebiet deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten gibt, leider negative (der Leichtathlet schrieb ja erst kürzlich über das Problem der Streckenmarkierung).
Am Ende konnte demzufolge kein Sieger gekrönt werden. Sicher wäre Olaf Beyer (ASK Vorwärts Potsdam) auch darunter gewesen. Ihn sahen wir in vorderster Front Richtung Ziel laufen, aber es hatte wohl nicht sollen sein.

Dritter Akt

Nach dem turbulenten Jahreswechsel – gerade in Berlin teils fröhlich, teils traurig endend-, nahmen am ersten Tag des Jahres 1990 die Laufenthusiasten wieder das Zepter in die Hand. Tradition bot hier am Vormittag der Neujahrslauf im Friedrichshain. Zum 19. Male wurde auf den 2-km-Rundkurs gerufen. Der Andrang hielt sich diesmal in Grenzen, „nur“ 3000 Aktive begaben sich auf die Strecke, um danach ihre grünen Teilnehmerschleifen in Empfang zu nehmen.
Mit dabei im großen Pulk, aber nicht ganz unentdeckt von Lauffreaks, Herbert Steffny, der 36jährige Marathonspezialist aus Freiburg. Der Bronzemedaillengewinner der Stuttgarter EM von 1986 ließ es sich nicht nehmen, bei diesem Laufspektakel in Berlin dabeizusein. Und er wie viele andere waren dann auch am Nachmittag bei dem Lauf dabei, dem 1. Gesamtberliner Neujahrslauf.

Neujahrslauf 1989-1990 (3)

Vierter Akt

Und dieses grenzüberschreitende Laufereignis wurde dann zum eigentlichen Höhepunkt des Lauf-Grand mit Vieren. Auf der Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule wuchs das Gewimmel zur frühnachmittäglichen Stunde mehr und mehr, nahm Riesenausmaße an. Aus beiden Teilen Berlins, aus beiden deutschen Staaten und aus dem Ausland eilten Laufenthusiasten und Laufsympathisanten herbei, und der Regierende Bürgermeister von Westberlin, Walter Momper, schickte im Beisein von Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack 20.000 Aktive auf den Weg.
Solch ein farbiges Bild hatte diese Strecke wohl selbst beim Berlin-Marathon noch nicht gesehen und solch eine lockere, ja geradezu euphorische Stimmung ist wohl schlechthin nicht zu überbieten. Hier ging es nicht um Leistung, sondern um das Ausdrücken von Gefühlen für die so plötzlich entstandene völlige Veränderung der politischen Situation an diesem auch in der Vergangenheit markanten Punkt deutscher Geschichte.
Und Walter Frese, Lauforganisator der BSG Fortuna Biesdorf, traf wohl den Nagel auf den Kopf, als am Start seine sieben Tauben in die Lüfte steigen ließ und jeder Taube einen Wunsch zuordnete: Frieden und Freiheit auf der ganzen Welt, Völkerverständigung, Liebe, Glück, Gerechtigkeit und ein vereintes Europa, das waren die Ziele, für die auch dieses Laufspektakel so überaus eindrucksvoll wirkte.
Das Riesenfeld setzte sich langsam in Bewegung, gewissermaßen in Erwartung des Nonplusultras. Was viele Läuferherzen seit Jahren und Jahrzehnten herbeisehnten, sollte Wirklichkeit werden: einmal in solch einer Gemeinschaft durchs Brandenburger Tor zu laufen!
Und dann war es soweit. Die Läuferschlänge trennte sich vor der Mauer nach links und rechts, wir trabten an freundlich grüßenden Grenzpolizisten vorbei. Unsere Startnummer galt als Dokument für den Grenzübertritt. Ein kurzer Schwenk zur Mitte, und dann die erhebenden Schritte durchs Brandenburger Tor. Ein solches Glücksgefühl, das sich anschließend im jubelnden Zuschauerspalier fortsetzte, haben wir wohl selten empfunden. Es brachte uns allen Hoffnung für die Zukunft und bewies gerade an dieser Stelle, welche wunderschöne, ja die schönste Nebensache der Welt der Sport sein kann bzw. ist.
Die folgenden Kilometer führten über die Straße Unter den Linden, vorbei am Palast der Republik, dem Nikolaiviertel, dem Roten Rathaus bis zum Wendepunkt am S-Bahnhof Alexanderplatz. Zurück ging’s vorbei an der Markthalle, der Marienkirche, dem Palasthotel und dem Berliner Dom wieder Richtung Brandenburger Tor. Diese Kilometer haben wir 20.000 fröhlich im Wechselspiel mit den begeisterten Zuschauern erlebt und genossen, das „Prosit Neujahr“ flog ständig hin und her.
Obwohl bei manchen langsam die Kräfte schwanden – mitgeführte Transparente und nicht laufgerechte Kleidung taten ein übriges-, wurde auch die zweite läuferische Begegnung mit dem monumentalen Brandenburger Tor mit Würde und Anstand, mit ausgelassenem Optimismus bestanden, und mancher ließ sich noch schnell einen Grenzpassierstempel auf seine Startnummer drucken. Am Ziel der rund 6 bis 7 km langen Strecke dann verdienter Lohn in Form einer Erinnerungsurkunde an diesen Ersten Gesamt-Berliner Neujahrslauf durch beide Teile der Stadt.
Einhelliges Resümee aller Teilnehmer: Das war das Laufereignis des Jahres 1990, und alle waren glücklich, dabeigewesen zu sein.
Peter Grau

Neujahrslauf 1989-1990 (2)

Erinnerungsurkunde, unterzeichnet von Horst Milde und Stefan Senkel.

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