Wie kann ich Leute wiederfinden, die irgendwann aus meinem Leben verschwunden sind und die ich wiedersehen möchte?

Mein Facebook-Freund Manfred Dechert hat mir dazu mit einem klugen Text gewissermaßen aus der Seele gesprochen. Gerade im vorgerückten Alter sucht man sich an Vergangenes intensiv zu erinnern, vor allem auch an Menschen, denen man irgendwann und irgendwo mal begegnet ist und die dann aus dem eigenen Gesichtskreis verschwunden sind.  Dazu beigetragen haben Ortswechsel,  Abschied von der Schule, Abschied vom Studium, Wechsel des Arbeitsplatzes u.a.  Und wenn man nun jemanden sucht, dann gibt es vielfache Hindernisse. Mal hat die Person, so sie weiblich ist, durch eine Heirat den Namen geändert, mal hat sie kein Telefon und steht also nicht im Telefonbuch,  mal ist sie durch einen Ortswechsel einfach verschwunden.

Was tun?  Google bringt selten einen Erfolg, ähnlich ist es auch bei Facebook.  Bestünde für jeden auf dieser Erde die Pflicht, sich bei Facebook anzumelden (so wie man sich beispielsweise im Einwohneramt anmeldet), dann wäre es viel leichter. Doch das ist wohl ein Wunschtraum.

Manchmal helfen Behörden und Institutionen. So etwa, als ich bei der Deutschen Kriegsgräberfürsorge nach dem Grabe meines im 2. Weltkrieg gefallenen Vaters nachfragte und  eine  umfassende Antwort bekam.

Aber wie ist es bei meinem Studienfreund Klaus Fricke, mit dem ich in den Jahren 1961 bis 1965 eng zusammen war,  mit dem ich danach noch lockeren Kontakt hatte (weil ich wußte, auf welcher Arbeitsstelle er gelandet war)? Doch dann trennten sich unsere Wege…

Bei manchen ist man froh, wenn man sie nicht wiedertrifft (wie etwa bei den IMs, die mich in den Jahren 1987 bis 1989 beschatteten). Andere aber möchte man wiedertreffen. Da hilft dann ab und an der Zufall, wie kürzlich, als ich in unserer Lokalzeitung einen Bericht über eine Druckerei las und dabei mitbekam, daß dort eine ehemalige Kollegin tätig ist.

Sei es wie es sei. Ich suche weiter nach Wegen, Verschwundene aufzuspüren.

Nun aber der eigentliche Anlaß dieser Tagebuch-Notiz: die Kolumne von Manfred Dechert:

 

An die Verschwundenen

Da gibt es verschiedene Sorten von Verschwundenen – die in der Politik, in zwielichtigen Ländern, wo Beamte und Politiker korrupt sind. Da verschwinden Menschen – das ist bei uns seltener der Fall. Da weißt Du in der Regel, wenn jemand gestorben ist.
Wenn Leute sich verabschieden, kündigen sie das vorher an, den Kontakt-Abbruch. Oder auch nicht. Die gehen einfach.

Das tut weh, weil die Erinnerung an sie ja bleibt, trotzdem. In Freundschaft, Begegnung, oder Liebe, oder erst recht im Zorn.
Dann sind jene, die hast Du früher mal mehr gekannt, ich sehe sie noch, im Cafe, in der Schule, auf dem Sportplatz, im Betrieb.
Die sind auch weg, und sie aufzufinden, wäre nicht so leicht.
Hallo, ich bin der, zwei Plätze neben Dir, auf der Schulbank, Hallo, ich bin der, mit den kalten Händen im Auto, als Du sagtest: Laß es, ich mag Dich, aber nicht mehr.

Da kannst Du Dich erst recht nicht melden. Obwohl, ich könnte ja fragen, was sie heute machen….Dann legen die entweder auf, oder sind genervt – oder schweigen erstmal. Dann erinnern sie sich, und dann kommt ein Gespräch in Gang, langsam, aber immer flüssiger.
Was machst Du, ach so.
Habe sogar mal an Dich gedacht, sogar mehrfach. Aber, ich konnte mich ja nicht so melden, einfach so.

So könnte ein Gespräch ablaufen, Andere, ehemalige Arbeitskollegen, die mich nicht mochten, oder ich sie nicht, würden einfach auflegen. Oder es wäre eine Art Schockstarre, sie rechnen nicht mit dem Anruf.
Immerhin wüßtest Du – sie leben noch. Im Hintergrund ein mißtrauischer Mann, eine mißtrauische Frau, Kindergeschrei, oder laute Jugendliche.
Bei Anderen weißt Du, über Bekannte wieder- sie sind gestorben.

Es ist unwahrscheinlich, daß jemand von denen hier mitliest, könnte aber doch sein, dann hört mal: Ihr könnt doch nicht einfach so gehen, früher, da wart Ihr das blühende Leben. Wo andere dumme Witze machten, habt Ihr mich wirklich zum Lachen gebracht, auf einem Arbeitsplatz, wo es nun wirklich nichts zu Lachen gab. Jetzt hattet ihr Krebs, oder fielt tot um – und einer sprang aus dem Fenster – der, der immer am meisten lachte.

Dann sind jene, von denen gesagt wird: die sind verstummt. Die machen nichts mehr, die leben nur noch für sich. Traurig, aber, da kann ich ja schlecht eine Detektei beauftragen, klingeln, weil die kein Telefon mehr haben, fragen: Wie geht es Dir? Fünfunddreißig Jahre keinen Kontakt, dann klingelst Du.
Einfach so, um zu schauen, ob er wirklich nur noch für sich lebt, oder vielleicht nicht doch noch etwas Leben in sich hat.

Dann sind jene, die sind hier weg, entweder hier ganz, oder ich bin auf ihrer Block-Liste. Dann posten sie sonstwo Gedichte, Sprüche, oder lassen dumme Sprüche los.
Die sind eine Erleichterung, wenn die verschwunden sind.
Bei anderen denke ich, wo sie wohl sind, was sie heute sagen, ob sich wer noch an mich erinnert, oder gar schon einmal eine Gedanken-Mail geschickt hat.

Vielleicht geht es – an jemand denken, und das ist dann wie ein Brief,
oder eine Mail.
Also Verschwundene – im Guten wie im Schlechten – einen Guten-Morgen-Gruß – egal wo, oder in welcher Lage.
Ihr habt hier noch ein paar Worte und Erinnerungen hinterlassen – wollt Ihr die nicht abholen. Oder soll ich sie behalten?

Manfred Dechert

Manfred Dechert Porträt fünf