Als die Mauer zwischen Ost und West noch fast undurchlässig war, träumten wir von Marathonstarts in Boston, New York oder London. Als es dann nach 1990 so einfach war, packte ich es lange nicht, weil ich der Arbeit den Vorzug gab und deshalb viel weniger als früher trainierte. Und Marathon ohne ausreichendes Training, das wird entweder zur Quälerei oder aber bringt kein vernünftiges Ergebnis. Und Ergebnisse wollten wir früher immer, nicht nur einen Spaßmarathon laufen.
1990 war ich den Berlin-Marathon gelaufen, 1996 wollte ich wieder mal einen Anlauf nehmen. New York und Boston waren mir zu weit entfernt, London schien machbar. Dachte ich.
Aber das Training vorher war einfach nicht ausreichend. Nur 30 bis 40 km schaffte ich pro Woche. Doch ein Rückzieher kam nicht in Frage, die Reise war bereits kurz vor Weihnachten 1995 fest gebucht.
Am 19. April 1996 war es dann soweit. Gemeinsam mit Arno und Marion fuhr ich mit einem Großraumtaxi von Neuruppin zum Berliner Flughafen Tegel. Alles klappte perfekt, der Flug nach London war kurzweilig und die Fahrt zum Hotel St. Giles verlief auch ohne Probleme.
Am gleichen Tag holten wir uns noch die Startunterlagen ab, sahen uns ein wenig in der Stadt um, und dann begann das Warten.
Früh am Morgen des 20. Aprils bewegten wir uns per Bahn im Strom der Gleichgesinnten in Richtung Greenwich. Dieser Ort ist vor allem bekannt als Null-Meridian, als Datumsgrenze. Doch das interessierte uns diesmal nur am Rande. Für uns stand der Start im Riesenpark von Greenwich im Vordergrund.
Einen kleinen Dämpfer hatte es für mich aber schon gegeben: Es war recht warm. Wenig trainiert – später heiß, das war eine sehr leistungsmindernde Mischung.
Anfangs merkte ich das zwar noch nicht, zumal die Strecke gefühlt nur abwärts führte. Der erste Höhepunkt kam bei Meile 6 (ca. 10 km), als wir das Segelschiff Cutty Sark umrundeten.
Wenig später, bei Meile 8, stand dann einer der vielen Fotografen parat und schoß dieses Foto:
Bei Meile 8 mit Nr. 2457 und gelbem Hemd vorn in der dritten Reihe.
Wenn man genauer hinschaut, bemerkt man, daß wir da noch alle recht gut und frisch aussahen. Aber sicher täuschte das bei den meisten Läufern schon.
Anschließend kamen wir zunächst durch weniger attraktive Vororte, doch bald, bei Meile 12, liefen wir auf die Tower Bridge zu.
Aber schon da spürte ich immer mehr, daß angesichts der steigenden Temperaturen meine Kräfte spürbar schwanden. Und bald, und das war kein gutes Zeichen, mußte ich Gehpausen einlegen. Da nützte auch der Beifall und das Geschrei der Zuschauer wenig. Man schämte sich eher, weil man nicht mehr lief, sondern nur noch ging.
Die Gehstrecken wurden immer länger, die Freude am Laufen immer geringer. Noch in Erinnerung ist mir eine sehr lange Straße, gelegen über der U-Bahn-Station Embankment. Zwischen hohen Häusern „promenierten“ wir, doch eher schlichen wir vorwärts. Arno und ich konnten sich kürzlich sehr gut daran erinnern, daß dort die Straße „dampfte“. Warum, das wissen wir nicht mehr so genau, aber uns war, als ob der Asphalt kochte. Denn geregnet hatte es ja nicht. Irgendwann war auch diese Straße passiert. Vorbei am Parlamentsgebäude mit dem Big Ben rechterhand ging es dann Richtung Buckingham Palace. Vorbei an Westminster Abbey, durch die Prachtstraße Birdcage Walk, und endlich rückte das Ziel immer näher.
Um dann im Ziel frisch auszusehen, legte ich nochmals eine lange Gehpause ein, und dann konnte ich die abfallende Straße hinunter ins Ziel einigermaßen genießen.
Auf dem Zielfoto sah ich dann auch nicht erschöpft aus. Aber die Zeit über mir sprach Bände: 5:01:33.
Doch eine Medaille gab es trotzdem:
Früher war ich zwischen 3:30 und 3:08 gelaufen, doch mit solch geringem Training war das eben nicht machbar. Und deshalb habe ich diesen London-Marathon auch nicht als „richtigen“ Marathon in Erinnerung. Für mich mußte damals ein Marathon mindestens unter 4 Stunden enden, möglichst unter 3:30 Stunden.
Geblieben ist die Erinnerung an einen spektakulären Lauf, und jedes Jahr im April wird mir das bewußt, wenn der London-Marathon wieder 30.000 Läufer und Läuferinnen in die Themse-Stadt ruft.
Peter Grau