Es war ein freundlicher Tag, dieser 9. Mai im Jahre 1985. Und es sollte ein erfolgreicher Marathontag werden, an dem für mich am Ende eine Zahl stand: 3:08:57. Drei Stunden, acht Minuten und 57 Sekunden. Am Tag zuvor war ich gemeinsam mit meinem Lauffreund Udo Frey aus Berlin angereist. Wir hatten uns Decin ausgesucht, diesen Ort in der CSSR, an der Elbe und nahe der Grenze zur DDR gelegen. Schon einmal war ich 1981 dort auf Marathonspuren gewesen. Doch da blieben die Uhren erst bei 3:17:55 stehen, vor allem auch den hohen Temperaturen von fast 30 Grad geschuldet. Nun sollte es eine neue Bestzeit werden. Am Abend zuvor, so kann ich mich erinnern, ließen wir uns einige Gläser leckeren tschechischen Bieres schmecken. Für Profis wohl nicht die richtige Vorbereitung, aber wir als Amateure konnten danach wenigstens ruhig schlafen. Hellwach aber waren wir an diesem Donnerstag (8. Mai war Tag der Befreiung) , gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten, die sich zum Start auf dem Marktplatz der Stadt sammelten. Die Temperaturen waren marathonfreundlich und der erste Teil der 42.195 km verlief reibungslos. Schulter an Schulter lief ich mit Udo aus dem Ort hinaus und dann auf einer asphaltierten Straße entlang. Auf Asphalt laufen mochte ich schon immer. Bei einem kontinuierlichen Tempo blieb noch genug Zeit, um die Umgebung wahrzunehmen. Links floß die Elbe dahin und an der rechten Seite türmten sich die dichten Wälder des Böhmischen Mittelgebirges. Bald waren wir an der Grenze angelangt, zogen in Bad Schandau eine kleine Schleife im Ort und begaben uns dann auf die Rückreise. Lange blieben wir zwei zusammen, ehe sich Udo rund drei Kilometer vor dem Ziel absetzen konnte. Das war aber für mich nur eine „kleine“ Niederlage, denn der Sieg wurde mir dann schwarz auf weiß mit der neuen Bestzeit geliefert.
In den folgenden Jahren versuchte ich es zwar noch mehrmals, unter die ominöse 3-Stunden-Marke zu kommen, war einmal auch kurz davor, ehe mir eine Verletzung einen Streich spielte. Deshalb aber behielt ich Decin immer in bester Erinnerung. Mit 3:08:55 kann ich heutzutage schon ein klein wenig angeben.
Aber wie war ich überhaupt zum Marathon und zu einer solchen Zeit gekommen? Sport getrieben hatte ich in Jugendzeiten gern, bei Fußball, Handball, Tischtennis und Tennis stellte ich mich nicht ungeschickt an. Sprintschnell war ich nie, doch schon damals machten mir etwas längere Laufstrecken keine Angst. Aber eine Laufbewegung im eigentlichen Sinne gab es noch nicht. Sie entwickelte sich in der DDR nur langsam, aber dann ziemlich gewaltig. Und ich schwamm gern auf dieser Welle mit.
Aller Anfang ist schwer
Es begann am 3. Januar 1974 auf dem Zachertsportplatz in Berlin-Lichtenberg, also vor über 40 Jahren. Dort lief ich meine ersten 400-m-Runden, 12 an der Zahl, in einem gemächlichen Tempo von zusammen 27 Minuten. In den folgenden Monaten kam ich zwar nicht über diese Distanz hinaus, aber es war immerhin ein Anfang. Die Jahresbilanz: 108 km.
1975 schraubte ich mein Pensum wieder stark zurück, es wurden gerade mal 8 km. Aller Anfang war also schwer. Doch dann, 1976, ging es spürbar aufwärts. Es begann mit einem Neujahrslauf in Berlin-Friedrichshain. Der nötige Auftakt , um mehr zu wagen. Zwar steigerte sich die Distanz nicht so schnell, doch es wurden im Urlaub in Cantnitz immerhin schon 6 km im Stück. Und am 7. November 1976 lief ich beim Stundenlauf der BSG Turbine Bewag auf den Willi-Sänger-Sportanlagen meinen ersten Wettkampf. Fast 30 Runden schaffte ich auf der Aschenbahn, 11.910 Meter genau. Im November folgte noch ein zweiter Stundenlauf, nun auf meinem heimischen Zachertsportplatz. Diesmal kamen 12.240 Meter heraus, gelaufen mit einem Körpergewicht von 61 kg. Hinterher wog ich noch 60,5 kg, hatte also ein Pfund verloren.
Jedenfalls hatte ich „Blut“ geleckt. Von nun an reizten mich Wettkämpfe. Ob es nun der Crosslauf in Weißensee auf schwerem Boden oder der BVB-Stundenlauf im Stadion an der Siegfriedstraße mit erreichten 12.900 Metern waren, der nötige Anreiz war gegeben, auch mehr zu trainieren. Erleichtert wurde mir der Anfang, weil ich etliche Gleichgesinnte fand, die ebenfalls wie ich auf dem Zachertsportplatz fast bei Null anfingen und sich dann kontinuierlich steigerten. Zu ihnen zählten u.a. Udo Bauermeister, Jürgen Stark, Horst Prill, Gunther Hildebrandt, Siggi Büttner und Bernd Dehnke.
1976 kamen immerhin schon 314 km heraus.
1977- ein Jahr im Aufwind
Im Januar 1977 wagte ich mich an einen Halbmarathon, für den ich 106 Minuten brauchte. Im März folgte ein kleiner Rückschlag, als ich beim 20-km-Plänterwaldlauf, der auf einem 5-km-Kurs durchgeführt wurde, schon bei 15 km ausstieg, und das ohne ersichtlichen Grund. Vielleicht war das Anfangstempo von 21:35 min für die ersten 5 km zu schnell gewesen. Ich hatte an dieser Aufgabe einige Zeit zu knabbern und schwor mir, es nicht wieder zu tun. Und diesen Schwur hielt ich ein, auch wenn ich später etwa bei Hitzemarathons manchmal knapp vorm Aufgeben war.
Wie einfach es aber war, mit einem höheren Trainingspensum auch viele Wettkämpfe bestehen zu können, zeigten mir die nächsten Wettkämpfe. Am 26. März lief ich auf der Bahn über 10.000 m 43:52 min, am 4. April beim HfÖ-Cross in der Lichtenberger Parkaue 67:57 min über 15 km, am 13. April 43:31 min beim 10-km-Lauf auf der Tartanbahn im Friedrich-Ludwig-Jahnsportpark. Am 17. April beim ersten Wettkampf außerhalb von Berlin im nahen Oranienburg sprangen beim Sachsenhausen-Gedenklauf über 15 km 66:28 Minuten heraus. Damals in Oranienburg gewann Konstantin Lebedjew, der aus der Sowjetunion stammte und als Offizier in Elstal bei Berlin stationiert war. Lebedjew, ein sehr angenehmer Lauffreund, war fortan bei vielen Wettkämpfen dabei, die auch ich bestritt. Nach dem Abzug der Roten Armee aus Deutschland verlor ich ihn zunächst aus den Augen, doch über Facebook bekam ich wieder Kontakt zu ihm. Jetzt, 2015, meldet er sich oft aus Kiew, berichtet über die politischen Entwicklungen in der Ukraine und über seine sportlichen Auftritte. Er konnte wie viele Läufer von damals nicht von der Lauferei lassen.
Seinen Stationierungsort Elstal habe ich viele Jahre später auch kennengelernt, als ich als Berichterstatter bei leichtathletischen Wettkämpfen dort arbeitete. An einem Ort, an dem sich 1936 Sportler auf die Wettkämpfe der Olympischen Spiele im Olympiastadion vorbereiteten. So konnte man dort auch das Zimmer besichtigen, das Jesse Owens damals bewohnte.
Wie schnell ich mein Leistungsniveau steigern konnte, bewies ich am 8. Mai 1977, als ich im Erfurter Georgij-Dimitroff-Stadion bei großer Hitze einen Stundenlauf bestritt. Hitze war nie mein Freund , aber ich schaffte immerhin schon 13.146 Meter. Drei Tage später lief ich im Berliner Ernst-Grube-Stadion die 10.000 m in 43:14 Minuten. Es war ein angenehmes Gefühl, die Verbesserungen spüren zu dürfen, die allein auf einem besseren Training basierten. Und auch danach war es immer so, daß ich relativ viele Wettkämpfe bestritt und damit auch die Lust zum Trainieren wach hielt. Zudem trainierte ich auch mehr, weil ich in den Ergebnislisten nicht immer weit hinten stehen wollte.
Erster Marathon in Grünheide
Am 29. März 1980 bestritt ich meinen ersten Marathonlauf. Und der war nicht einmal geplant. In Grünheide vor den Toren Berlins fand seit 1977 ein 100-km-Lauf statt, und man konnte dort auch mitlaufen, wenn man nicht den ganzen langen Kanten absolvieren wollte. So hatte ich geplant, nur 30 km als Training mitzulaufen. Doch da ich mich gut fühlte, meldete ich mich auch offiziell an.
5.30 Uhr war in Berlin aufstehen angesagt, 6.30 Uhr startete ich meinen Trabant, um 7.15 Uhr am Veranstaltungsort einzutreffen. Dort bekam ich dann die Startnummer 3, begrüßte etliche Bekannte und Punkt 8 Uhr ging es los. Der Start erfolgte inmitten eines Ferienobjektes mit vielen Bungalows, die wir auch zum Umziehen nutzten. Jeweils nach einer Waldrunde von 10 Kilometern kehrten wir zurück, konnten dort Tee und Haferschleim zu uns nehmen. Ich tat das bei 20 und 30 km, dazu nur Tee bei 25 und 35 km. Von Anfang an lief ich mit dem Berliner Peter Schultze, der ca. 60 km laufen wollte und deshalb auch langsamer begann. Die ersten 10 km liefen wir in 55 Minuten, die folgenden 3×10 km in jeweils 58 Minuten. Bis auf kurze Gehpausen an der Verpflegungsstelle waren wir ständig in Bewegung, und immer im Wald. Schon nach 10 Kilometern war ich sicher, daß ich die Marathondistanz schaffen würde. Und die Zeit verging auch fast wie im Fluge, denn wir unterhielten uns oft und über viele Dinge des Lebens und genossen die Waldluft. Erst ab 35 km wurden meine Beine etwas schwerer, aber das war wohl normal. Ehrgeiz hatte ich noch, um unter 4 Stunden zu bleiben und deshalb ließ ich auch die letzte Verpflegungsstelle aus. Mit 4:02:20 h gelang mir das zwar nicht ganz, aber meiner Freude tat das keinen Abbruch. Frisch geduscht und schnell erholt ging es wieder zurück nach Berlin. Meiner sehr laufinteressierten Mutter schrieb ich dann im Brief:
„Insgesamt habe ich jetzt ein Hoch. Ich weiß nun auch, wie es am Rennsteig sein wird und wie ich mich dort verhalten muß. Solch ein Wettkampf ist leichter, als wenn ich 4 Stunden trainieren müßte.“
Der Kultlauf am Rennsteig
Rennsteiglauf, das war gewissermaßen das Mekka der DDR-Läufer. Es gehörte einfach zum guten Ton, jedes Jahr im Mai an diesem Lauf teilzunehmen, der über Berg und Tal auf dem Höhenweg „Rennsteig“ im Thüringer Wald führte. Ich war dort in meiner Jugend schon unterwegs gewesen, doch nicht als Läufer, sondern als Skiläufer. Von Erfurt waren wir in den 1950er-Jahren mit der Eisenbahn nach Oberhof gefahren und dann hieß es, auf Skiern den Rennsteig erwandern. Ein wenig übte ich auch das Abwärtsfahren, so auf der berühmten „Idiotenwiese“ in Oberhof. Doch so richtig lernte ich das Wedeln, das Slalom-Fahren nicht, und auch nicht das „Skaten“, denn das kam erst viel später. Zu dieser Zeit aber konnte ich mir noch nicht vorstellen, daß ich später mal viele Male am Rennsteiglauf teilnehmen würde.
Der erste offizielle Rennsteiglauf fand am 12. Mai 1973 als 100-km-GutsMuths-Gedenklauf statt, die Strecke führte von der Hohen Sonne bei Eisenach bis nach Masserberg. Am 9. Mai 1975 fand der Rennsteiglauf erstmals als Wettkampf statt und bald bestand das Angebot aus einer längeren Strecke von ca. 70 km und einer kürzeren Strecke von rund 45 km. Mir reichte immer die kürzere Distanz, denn auch die war wegen der vielen Hügel und Berge recht strapaziös.
Meine Rennsteigpremiere im Jahre 1980
Wie immer bei einer Premiere war die Aufregung groß, denn ich wußte ja nicht, was da auf mich zukommen würde. Aber ich hatte ja die Erfahrung des ersten Marathons mit im Gepäck. So bekam ich am 17. Mai meine Nerven in den Griff, konnte sogar in der Nacht zuvor einigermaßen schlafen. Wie später bei meinen oftmaligen Starts hier am Rennsteeig bekam ich die erste Gänsehaut, als die tausend Köpfe zählende Läuferschar sich im Startgebiet auf einer riesengroßen Wiese drängte.
Punkt 9 Uhr setzte sich die Herde in Bewegung. Blockstarts waren dabei nicht möglich und so mußte ich anfangs öfters gehen, später an jedem Anstieg und die gab es zuhauf.
Die einzelnen Stationen: Limbach 10 Uhr (1 x Tee), Masserberg 11 Uhr (2x Haferschleim, 1 x Tee), Neustadt 12.15 Uhr (1 x Haferschleim, 1 x Tee), Frauenwald 13.30 Uhr.
Und dann der grandiose Zieleinlauf in Schmiedefeld am Rennsteig. Nach 5 Stunden und 8 Minuten hatte ich die ca. 45 km über Stock und Stein, über Berge und durch Täler bewältigt.
Es war mein erster Rennsteiglauf, und es sollten noch viele folgen.
Aber nicht nur die großen Läufe säumten meine Läufer-Laufbahn. Genauso gern war ich bei kürzeren Distanzen dabei. Als Beispiel darf ich dieses Jahr 1980 anführen. Nach dem Rennsteiglauf folgten bald ein Stundenlauf (25.6.; 13.380 m), dann ein Stundenpaarlauf auf dem Zachertsportplatz (1.7.) mit Rainer Lehmann bei Dauerregen (uns immer abwechselnd schafften wir 15.756 m), später der Buchenwald-Gedenklauf in Weimar über 25 km (13.9.; 2:02:15 h; auf einer schweren Strecke und kurz unterbrochen wegen eines Wolkenbruches in einem Hauseingang), ein 25-km-Lauf in Waren „Rund um die Müritz“ (5.10.; 1:57:02 h), ein 16-km-Lauf in Wendisch Rietz (1:22:04), ein 10.000-m-Lauf auf dem Kissingensportplatz (14.10.; 44:22), ein 33-km-Lauf „Rund um die Müggelberge“ (19.10.; 2:51:47), der Hubertuslauf über 26 km in Neuruppin (2.11.), der Pfefferkuchenlauf über eine Stunde (13.670 m; 21.12.) in der Siegfriedstraße und der EBT-Silvesterlauf im Berliner Plänterwald über 10 km in 41:34 min. Alles in einem Jahr!
So könnte ich jetzt über jedes Jahr berichten, über alte und neue Laufveranstaltungen. Aber es bringt mehr, wenn ich einige herausgreife und vor allem auch meine Entwicklung darstelle, die mit mehr Laufkilometern auch schnellere Zeiten auf allen Distanzen brachte. Klingt einfach, und im Nachhinein war es auch einfach. Auch deswegen, weil wir uns nicht allein bewegten, sondern in der Gemeinschaft, sei es bei der Sportgemeinschaft EBT (Empor Brandenburger Tor) Berlin, sei es in meinem Wohnumfeld in Berlin-Lichtenberg mit einer Laufgruppe, die nicht nur auf dem Zachertsportplatz trainierte, sondern auch von dort aus die Parks und das Waldumfeld des Pionierparks und der „Alten Försterei“, der Heimstatt des Fußballclubs Union Berlin, laufenderweise unsicher machte.
Fortsetzung folgt!