Kugelstoßer Tobias Dahm (VfL Sindelfingen) bekommt im Bundesleistungszentrum in Kienbaum vor den Toren Berlins den letzten Schliff für Rio. „ Ich freue mich schon sehr auf den Start bei den Olympischen Spielen. Und ich fliege auch voller Selbstvertrauen hin, will zunächst am 18. August die Qualifikation überstehen und dann am gleichen Tag im Finale möglichst Bestleistung stoßen“.
So wie er es bei unserem Gespräch im Bistro des Trainingszentrums sagt, in seiner ruhigen, freundlichen, aber bestimmten Art, nimmt man ihm das gern ab. Und ein wenig denke ich an das Sprichwort: „ In der Ruhe liegt die Kraft“. Er bestätigt auch, dass ihm das normalerweise bei Wettkämpfen auch zugute kommt. „ Ich bin immer recht ruhig, im Gegensatz zu vielen Athleten, die Tage vorher schon aufgeregt sind. Erst auf der Fahrt ins Stadion und dann beim Warmmachen werde ich etwas nervöser.“ Doch allein mit Ruhe fliegt die 7,26- kg-Kugel auch nicht. Dazu ist mehr notwendig. Vor allem intensives Training. Und das hat er gerade hinter sich.
Eine beschauliche Ruhe liegt über dem Liebenberger See dicht am Trainingszentrum
Tobias Dahm kann über die Trainingsbedingungen hier in Kienbaum nur Gutes berichten. „ Ich bin jetzt die dritte Woche hier, und mit meinem Trainingszustand sehr zufrieden.“ Zu zwei Wettkämpfen ist er von hier aus gefahren, am 29. Juli stieß er in Schönebeck 19,84 m, „viel mehr war nicht zu erwarten, denn ich kam ja aus dem harten Training.“ Und zwei Tage später, am 31. Juli, trat er nochmals beim Schlossmeeting in Gotha an und schaffte 20,12. „Aber nach dem dritten Versuch hörte ich auf , weil es so vom Himmel schüttete und ich vorsichtig sein wollte.“
Sechs Minuten im Kältebecken
Wie sieht nun sein normaler Trainingstag in Kienbaum aus? Tobias Dahm scheint es Spaß zu machen, darüber zu berichten: „ Meistens klingelt der Wecker um 7.30 Uhr, um 8 Uhr ist Frühstück. Die erste Trainingseinheit beginnt in der Regel 10 Uhr, und zunächst wärmen wir uns auf dem Ergometer auf oder spielen Tischtennis oder Basketball.“ Dann folgt die Arbeit mit der Kugel. „ In der Regel stoßen wir nicht im Freien, sondern in der Wurfhalle, weil es technisch sauber sein soll. Und wir setzen verschiedene Reize, denn es wird nicht nur mit der Wettkampfkugel von 7,26 kg gestoßen, sondern auch mit 6 kg und mit 8 kg.“ Zwischen 35 bis 50 mal fliegt die Kugel durch die Luft. Anschließend werden im Kraftraum noch einige Übungen für Rumpf und Schulter durchgeführt, „ für die kleine Muskulatur“, wie Tobias Dahm erklärt. Dann folgt die Krönung des Vormittags, der „Sprung“ ins Kältebecken. „ Sechs Minuten bin ich drin, das ist kein Problem für mich. Man kann sich das wie ein Bad im Gebirgsbach vorstellen.“
Anschließend geht es zurück ins Zimmer, kurze Wege sind für Kienbaum das Normale. Nach ausgiebigem Duschen sind es dann beispielsweise 50 Meter bis zur Mensa, wo ein schmackhaftes Essen wartet.
Tobias Dahm hat von allem etwas gegessen.
Eine längere Mittagspause folgt, er hat ein Einzelzimmer im Hauptgebäude:
„ So zwischen 20 und 40 Minuten schlafe ich da“. Das klingt nicht viel, aber wenn Tobias Dahm später vom normalen Leben in Stuttgart, vom Pendeln zwischen Arbeit und Sport, erzählt, muss man das anders sehen. Hier bekommt das Wort „ Regeneration“ einen ganz anderen Klang.
Scharfe Stöße und Bankdrücken
Ab 16 Uhr ist dann die zweite Trainingseinheit angesetzt. Da kommen die „scharfen Stöße“, d.h., „ich versuche wettkampfnah zu stoßen. Das sind dann nochmals 20 bis 25 Stöße, je nachdem, was der Körper sagt“.
Danach geht es in den Kraftraum, und dort folgen normale Übungen wie Bankdrücken, Reißen, Kniebeugen und Beinpresse. Und welche Massen werde dabei bewegt? „Das hängt immer von der jeweiligen Trainingsphase ab. Gegenwärtig mache ich beim Bankdrücken mit der Freihantel 3 Wiederholungen in fünf Serien, und bewege dabei zwischen 210 und 230 kg. Das Reißen versuchen wir relativ schnell auszuführen, in der gleichen Technik wie die normalen Gewichtheber, aber nicht ganz so tief in der Hocke.“ Bis maximal 95 kg bewältigt er da.
Das Gesamtpaket Kienbaum stimmt jedenfalls für Tobias Dahm. Das merkt man ihm an.
Und er genießt es um so mehr, weil seine Nominierung für Olympia nicht eben glatt verlief. Lange kämpfte er um die Olympianorm von 20,50 m. Zwar hatte er im Hallenwettkampf in Saßnitz mit 20,56 m ordentlich vorgelegt, doch im Freien mühte er sich lange vergeblich.
Für die EM in Amsterdam wurde er nominiert, doch das schien für ihn die letzte Chance. Und so sieht er es im Nachhinein: „ Der Qualistoß mit 20,42 m war sehr erfreulich. Nun schien im Finale alles machbar. Und auch der erste Versuch mit 20,03 m ließ mich hoffen. Aber dann hat man nur noch fünf Versuche und man zählt die innere Uhr herunter. Ich wurde nervöser, konnte die Atmosphäre nicht aufsaugen.“ Am Ende standen nur 20,25 m als bestes Ergebnis auf der Liste. Da nützte auch die annehmbare Serie von 20,03; 20,25; 19,76; 19,78; 20,17, 20,13 m nichts. Es fehlte einfach der Ausreißer nach oben. Und Tobias Dahm war sehr enttäuscht. „ Damit stand für mich Rio in weiter Ferne. Um so schöner, dass ich zwei Tage später von meiner Nominierung erfuhr.“
Spagat zwischen Arbeit und Sport
Ein kleines Wunder ist das für manchen, wenn man weiß, daß Tobias Dahm zwischen Arbeit und Sport pendelt, einen Vollzeitjob bei Daimler in Sindelfingen hat. Das tendiert dann fast mehr zum Amateur. Aber es zeigt vielleicht auch, was alles möglich ist.
Und so ganz freiwillig ist Tobias Dahm diesen Weg auch nicht gegangen.
„2000 habe ich meine Ausbildung bei Daimler begonnen, „ erinnert er sich. Damals hatte ich keine andere Option. Ich war weder Bundeskader, noch eröffnete sich für später eine andere Möglichkeit wie Bundespolizei oder Bundeswehr.“ Aber bereut hat er es nicht. 2003 schloss er seine Ausbildung als Mechatroniker ab. „ Bei Daimler wird man danach nach den Noten eingestellt. Meine Noten waren relativ gut, und deshalb war schnell klar, dass ich ab 2003 in die Entwicklung kam. Das war auch mein Anreiz, denn das ständige Stehen am Band hätte sich mit dem Leistungssport nicht vertragen.“ Und in der Entwicklungsabteilung arbeitet er mit daran, die neueste Elektrik in den sogenannten Erlkönig, den ersten Versuchsträger, einzubauen. „ Wir setzen neue Technik in die neuen Modelle, es wird die Zukunft erprobt.“
Wahrlich eine interessante, abwechslungsreiche Arbeit. Und da nimmt Tobias Dahm auch manche Mühen in Kauf.
Alles spielt sich im Raum Stuttgart ab. „ Ich habe im Prinzip zwei Wohnsitze. Einmal zuhause bei meinen Eltern in Neuhengstett. Von dort sind es ungefähr 40 km bis nach Stuttgart. Und dann habe ich noch eine Wohnung in einer WG in Stuttgart. Diese Wohnung beziehe ich meistens dann, wenn die Tage zu lange sind und es sich nicht mehr lohnt, nachhause zu fahren. Insgesamt bin ich die Hälfte der Woche in Stuttgart und die andere Hälfte in Neuhengstett.
Und so sieht dann sein normaler Tagesablauf aus: „ Gegen 4.40 Uhr stehe ich auf, fange um 6 Uhr mit der Arbeit an. Die geht dann meistens bis 15.30 oder 15.45 Uhr. Dann setzte ich mich ins Auto und fahre zum Training in die Molly -Schaffele-Halle. Der dortige Olympiastützpunkt der Leichtathleten liegt hinter der Gegengerade der Mercedes-Benz-Arena.
Ab 16 Uhr beginnt das Training dort und das Ende hängt dann ganz davon ab, welche Programm meine Trainer vorgesehen haben. Aber in der Regel ist dann 21 Uhr Schluss. Trainer? „ Ja, ich habe seit langem zwei Trainer. Einmal meinen Heimtrainer Joachim Lange, den Bruder meiner Mutter. Und zum anderen den Landestrainer Peter Salzer. Beide ergänzen sich sehr gut“, lobt er und fügt noch an: „ Ich bin froh, dass ich zweigleisig fahre, also Arbeit und Sport habe. Es ist zwar auch gut, wenn man nur Sport betreibt, aber ich bin kein Mensch, der sich Tag und Nacht nur mit dem Sport beschäftigen will. Ich brauche auch etwas anderes, etwas, was meinen Kopf mehr beschäftigt. Ich brauche eine Arbeit, die in meinen Augen sinnvoll ist.“
Eigentlich bleibt da fast keine freie Zeit für ein Hobby. Aber da täuscht man sich. „ Mein Hobby sind alte Autos, Oldtimer“, erklärt er. „ Vor fünf Jahren habe ich mir aus den USA ein altes Auto herüberkommen lassen, einen Mustang Coupe, Baujahr 1967.“ Das paßt natürlich zum Beruf. Und Tobias Dahm hat danach viele Stunden geopfert, hat viel am Auto herumgeschraubt, herumgebastelt. Um so stolzer ist er, wenn er berichtet: „ Es ist fahrfertig“. Und so sieht es aus:
Mustang Coupe, Baujahr 1967
Die Zeit vergeht bei unserem Gespräch in Kienbaum sehr schnell, und ich möchte auch nicht zu viel von seiner Mittagspause wegschneiden. Aber ein wenig möchte ich noch erfahren, wie er überhaupt zum Sport gekommen ist.
Vom Fußball über Zehnkampf zum Kugelstoßen
1987 in Böblingen in der Nähe von Stuttgart geboren, beteiligte er sich als Kind zwar am Drei-oder Vierkampf, aber „ vor allem haben wir Fußball gespielt. Doch leider zogen dann in der Mannschaft nicht mehr alle an einem Strang und wir wurden schlechter.“ Aber, und das ist sicher ein Credo von Tobias Dahm, „ ich hatte keine Lust zum Verlieren.“ So hörte er mit dem Fußball auf, erinnerte sich wieder an die Leichtathletik, und wurde vom Bruder seiner Mutter, Joachim Lange, trainiert. „ Es hat wieder Spaß gemacht und auch die ersten Erfolge stellten sich ein, vor allem im Mehrkampf.“ Als aber Verletzungen sich häuften, stand er kurz davor, aufzugeben. Da bekam er den Tipp: Probiere es doch mal mit dem Kugelstoßen. Das war im Mehrkampf seine beste Disziplin gewesen, und er brachte auch die nötigen Körpermaße mit. Allerdings nicht zum Drehstoß, „dafür war ich zu lang und außerdem hatte ich kein Gefühl für die Drehbewegung“. Es folgten Hochs und Tiefs, aber Tobias Dahm glaubte immer an sich. So überwand er auch eine gewisse Durststrecke, als es in den Jahren 2013 bis 2015 einfach nicht über die 20 m hinausgehen wollte. Um so mehr freute sich der nunmehr 2,03 m große und gegenwärtig 124 kg schwere Hüne, daß seine Kugeln 2016 endlich über diese Marke hinweg flogen. Und das Ticket für Olympia war der schönste Lohn dafür.
Die letzten Tage bis zum 18. August will Tobias Dahm nun auch noch perfekt gestalten. „ In dieser Woche wird nochmals voll belastet. Am 7. August fliege ich von Berlin aus heim nach Stuttgart. Dann wird bis zum 12. August durchtrainiert, wobei die Intensität deutlich heruntergeschraubt wird.“ Für den 12. August ist sein Abflug nach Rio de Janeiro terminiert. Und dann sind es nur noch wenige Tage bis zum 18. August. Dort wird sich der Kugelstoßer Tobias Dahm gemeinsam mit David Storl im Olympiastadion präsentieren. Und darauf freut er schon heute unbändig.
Peter Grau
Nachklang von den Halleschen Werfertagen
Am 21. Mai 2016 sah ich in Halle/Saale Tobias Dahm erstmals in diesem Jahr in Aktion. Da konnte man noch nicht ahnen, daß er drei Monate später im Kugelstoßring in Rio stehen würde.
Einige Fotos aus HalleSaale :
Während des Wettkampfes sah er sich zwischendurch in Ruhe die Konkurrenz an.
Vor der Siegerehrung plauderte er u.a. mit den Altmeistern Oliver-Sven Buder und Ralf Bartels:
Bei der Siegerehrung wurde er als Dritter geehrt.
Gemeinsam auf dem Treppchen: 1. Konrad Bukowiecki (POL/20,61 m), 2. David Storl ( SC DHfK Leipzig / 20,25) , 3. Tobias Dahm ( VfL Sindelfingen / 19,77 m).