Wenn es Robert Harting nicht geben würde, müßte man ihn erschaffen. Was er mit seinen sportlichen Leistungen, mit seinen zahlreichen Wortmeldungen bewegt, daß ist für die Leichtathletik, ja für den gesamten Sport fast einmalig.
Ich habe ihn in einem längeren Gespräch erstmals am 10. Juni 2006 am Rande der Berliner Meisterschaften in Berlin-Wilmersdorf kennengelernt. Ein Jahr zuvor, 2005, war er in Erfurt, meiner Heimatstadt, gerade U23-Europameister geworden. Im Gespräch ging es damals u.a. auch um seinen Trainerwechsel, von Jürgen Schult zurück zu Werner Goldmann. Und so nebenbei erzählte er mir auch, daß Diskuswerfer Torsten Schmidt auch gerade den Trainer gewechselt hatte. Das war vor zehn Jahren. Heute ist dieser Torsten Schmidt der Trainer von Robert Harting.
Damals bei den Berliner Meisterschaften schleuderte Robert Harting die Scheibe auf 60,25 m und sein Trainer Werner Goldmann meinte dazu: „ Die Spritzigkeit ist im Moment nicht da. Er hat ein wenig Knieprobleme, was ihn behindert. Aber vom gesamten Bewegungsablauf war es schon recht ordentlich.“ Mit der Kugel schaffte er dann noch die persönliche Bestweite von 18,08 m.
Robert Harting war damals bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Potsdam angestellt, machte sich aber auch Gedanken darüber, Architektur oder Innenarchitektur zu studieren. „ Ich habe jetzt ein Jahr nur trainiert, das erfüllt mich nicht vollends.“
Schon damals war er sehr offen zu mir, erzählte mir von seinen Problemen, obwohl wir uns gerade einmal kennengelernt hatten. Später habe ich oft mit ihm geplaudert, wie viele andere Journalisten auch.
Einer, der immer sehr nahe an ihm dran war, ist mein Kollege Michael Reinsch von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).
Michael Reinsch auf einer PK mit Robert Harting
Michael Reinsch (links) im Gespräch mit Fotograf Eberhard Thonfeld auf der Eröffnungs-PK des ISTAF 2016
Zuletzt im Juli 2016 hatte Michael Reinsch ein sehr langes und intensives Gespräch mit Robert Harting im Trainingslager in Kienbaum.
All das, was ihm der Diskuswerfer ihm dort erzählte und all das, was er vorher schon über ihn erfahren hatte, faßte Michael Reinsch in einer umfangreichen Geschichte zusammen, die er nun, selbst schon in Rio de Janeiro weilend, zur Redaktion der FAZ schickte und dort am 5. August 2016 veröffentlichen ließ.
Lesen Sie im folgenden Auszüge aus dieser Geschichte über Robert Harting, die die vielschichtigen Seiten des Olympiasiegers von 2012 beleuchtet.
Rio 2016: Der Olympia-Rebell Robert Harting
Diskuswerfer Robert Harting hat sportlich alles erreicht. Bei Olympia in Rio ist er der deutsche Sportler mit dem höchsten Bekanntheitsgrad. Das ist ihm nicht genug. Er legt sich mit allen Mächtigen des Sports an.
Welcher Sportler hat schon sein eigenes Markenzeichen, oder noch besser: Welcher Sportler ist schon seine eigene Marke? Neun Jahre ist es her, da wurde Robert Harting unverwechselbar. Bei der Weltmeisterschaft 2007 in Osaka zerriss der Diskuswerfer, kaum hatte er die Silbermedaille gewonnen, schreiend vor Glück das Nationaltrikot auf der breiten Brust. Seitdem ist er zwei Mal Europameister geworden, drei Mal Weltmeister und, 2012 in London, Olympiasieger. Trikots zerreißt der 2,02 Meter große Riese aus Berlin schon lange nicht mehr. Aber jeder weiß: Bei Harting fliegen die Fetzen.
Wie in der vergangenen Woche. Da sagte er über Thomas Bach, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC): „Für mich ist er Teil des Doping-Systems, nicht des Anti-Doping-Systems.“ Bach hat die russische Auswahl eingeladen zu den Sommerspielen in Rio de Janeiro, obwohl die Welt empört ist über das staatlich organisierte Doping im russischen Sport und die dreiste Manipulation der Doping-Kontrollen bei den Olympischen Winterspielen von Sotschi vor zwei Jahren. Am Freitag beginnt Olympia mit der Eröffnungsfeier.
Aus der Eröffnungs-Pressekonferenz des ISTAF 2016 in Berlin
Er gehe nicht mit Thesen in Pressekonferenzen, sagt Harting, er lege sich solche Statements auch nicht zurecht. Ein Interview sei für ihn ein Meinungsaustausch mit Journalisten; er denke halt laut. Und so erzählte Harting, als er kürzlich im Trainingslager in Kienbaum zu seinem Pressetag einlud, dass er eine schlaflose Nacht verbracht habe nach der Entscheidung von Bach. Als die Journalisten nachfragten, drehte und wendete er vor den Kameras und Mikrofonen die Frage, ob Bach tragbar sei als IOC-Präsident. „Wenn ich sage, dass er das nicht ist – was ich persönlich so empfinde -, wird sich daran trotzdem nichts ändern“, redete er so vor sich hin. „Robert Harting ist der Sportler, der sich bei Olympia bewegt, der vielleicht auch zwei, drei Sachen sagt. Aber allein werde ich nichts verändern können.“ Das ist alles andere als Resignation. Für Harting ist das eine Herausforderung.
Die scheinbare Ausweglosigkeit hat ihn seine ganze sportliche Karriere über zu Höchstleistungen angetrieben. „Mir ging es immer um Anschluss, um Anerkennung“, sagt er. „Ich habe mit dem sportlichen Erfolg das erzwungen, was ich nicht hatte.“ Aus der Handballmannschaft in seiner Heimatstadt Cottbus flog er als Halbwüchsiger, weil seine Eltern mit dem lächerlich geringen Monatsbeitrag im Rückstand waren. Mit 17 Jahren verabschiedete er sich auf die Sportschule nach Berlin – mit Tattoo auf dem Unterarm und Piercing in der Augenbraue. Gegen die Einsamkeit hielt er in seinem Internatszimmer einen Hasen; er nannte ihn „Braten“.
Abitur, Studium, sportlicher Erfolg – für Harting war alles ein Existenzkampf. Zu Meisterschaften stieg er, als wäre er ein Boxer, zur Entscheidung über alles oder nichts in den Ring. Den Druck braucht er. „Ein kompletter Athlet bist du erst als Olympiasieger“, sagte er 2012, als ein chronisch entzündetes Kniegelenk ihn quälte. „Und wenn ich später im Rollstuhl sitze: Ich will dieses verdammte Gold.“ Er holte es sich. Und wurde erstmals zum Sportler des Jahres gewählt, vor Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel.
Harting hat an der Universität der Künste in Berlin Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert, er beherrscht das Handwerk. Vor einem Jahr produzierte er einen kaum anderthalb Minuten langen Film mit der Magie eines Musik-Videos. Sportlerinnen und Sportler distanzieren sich darin, unterlegt mit dem Rhythmus eines Herzschlags, vom korrupten Leichtathletik-Weltverband. „Liebe IAAF, wir können dir nicht mehr trauen“, sagt Harting auf Englisch. „Du hast verraten, woran ich glaube.“ Bei Youtube ist das Video mehr als hunderttausend Mal gelaufen.
Das ist die höchste Form des Protests, denn Athleten können nicht streiken. „Jeder Sportler hat fünf, sechs Sportfördersysteme im Hintergrund“, erklärt Harting die prekäre Mischfinanzierung aus Sponsorleistung, Klubfinanzierung und Geld vom Staat. Bundeswehr, Polizei, Bundespolizei und Zoll stellen mehr als tausend Stellen zur Verfügung, um Athleten wirtschaftlich abzusichern. Doch die Verbände entscheiden, ihre Trainer und Sportdirektoren vergeben die Anstellungen. Wer nicht verlässlich sportliche Leistung bringt, ist draußen.
„Das ist eigentlich kein demokratisches Fördersystem, sondern eine Diktatur“, findet Harting. „Jeder sieht sich im Vordergrund, und die Athleten sind abhängig. Wenn sie sich weigerten, in Rio anzutreten, würden sie vom Markt verschwinden.“ Ein Arbeitskampf ist in Rio zwar ausgeschlossen, eine Demonstration der Sportler aber wohl in Vorbereitung.
Früher dachte er über eine Freigabe von Dopingmitteln nach
Einfach war es für Harting nicht, die Rolle des Kritikers und Anti-Doping-Vorkämpfers einzunehmen. Nach der Qualifikation bei der WM 2009 im Berliner Olympiastadion klagte er, noch im Adrenalinrausch, dass ihm der Protest der Doping-Opfer-Hilfe auf die Nerven gehe. Die Organisation hatte vor dem Stadion Augenbinden verteilt, damit man das Doping-Elend nicht sehen müsse. Harting fühlte sich angegriffen und schimpfte, sein Diskus solle den Protestierern an den Kopf fliegen.
Mit bald 32 Jahren ist er nicht viel ruhiger geworden. Doch er scheint seinen Weg gefunden zu haben. Als er 2009 über die Wirkungslosigkeit von Dopingkontrollen lamentierte, empfahl er noch, über eine Freigabe der Mittel nachzudenken. „Ich bin ein ganz harter Anti-Doping-Kämpfer“, sagt Harting heute. „Aber unser Engagement scheitert an den Funktionären.“ Als der Leichtathletik-Weltverband den zwei Mal des Dopings überführten Sprinter Justin Gatlin als Leichtathleten des Jahres zur Wahl stellte, forderte Harting öffentlich, aus der Kandidatenliste gestrichen zu werden. Der Verband änderte seine Regeln; Doper dürfen nicht mehr geehrt werden.
Auch im Fall der russischen Sportler hat er sich schon früh und entschieden zu Wort gemeldet. „Das Ende des Vertrauens“ hieß ein Beitrag, den Harting im Januar 2015 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb. Neun Monate bevor Ermittler der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) systematisches Doping in der russischen Leichtathletik belegten und obendrein die Polizei über Erpressung, Bestechung und Geldwäsche an der Spitze des Leichtathletik-Weltverbandes informierten. Anderthalb Jahre bevor IOC-Präsident Bach mit der Einladung Russlands nach Rio die Sportwelt schockierte, beschrieb Harting geradezu prophetisch die Athleten als rechtlose Figuren in einem schändlichen Spiel.
„Allein wenn ein Athlet sich nicht dem Wada-Kodex unterwirft, wird ihm alles genommen: sein Startrecht, der Sinn seines Trainings, die Möglichkeit, Sponsoren zu finden. Wenn aber Länder sich offen weigern oder den Kodex unterlaufen, geschieht nichts. Das System ist erst fair, wenn auch Länder und Verbände gesperrt werden, die sich nicht an die Regeln halten.“
Er ging damals auch auf Julija Stepanowa ein, die Whistleblowerin, der das IOC nun mangelnde ethische Qualifikation attestiert. Sie hatte sich an die Wada gewendet mit der Beschreibung eines Systems, mit belastenden Filmaufnahmen der obersten russischen Nationaltrainer. „Dass bis jetzt keine Konsequenzen erkennbar sind, lediglich von oberster Stelle geprüft wird, ist das Ende des Vertrauens in diese Einrichtung“, schrieb Harting.
Heute wirft er für Rio die Frage des Schadensersatzes auf: Wenn Athleten aus dem russischen System nun Medaillen gewinnen und später als Doper auffliegen, ist für ihn die Verantwortung eindeutig. Es sei an der Zeit, sich zu überlegen, wie die betrogenen Athleten entschädigt werden sollten, sagt er.
Als die Regierung 2015 das Anti-Doping-Gesetz schuf, ging er in den Widerstand. Im Gesetzgebungsprozess lud der Bundestag ihn als Experten ein. Doch Harting bekam zu spüren: „Ich war nicht erwünscht.“ Denn er argumentierte gegen die Strafbarkeit des Besitzes von Doping-Mitteln, den Kern des Gesetzes. Seiner Ansicht nach ist die Gefahr zu groß, dass Athleten Opfer eines Komplotts und ihnen Doping-Mittel untergeschoben werden. Doch die große Koalition war sich einig und verabschiedete das Gesetz. Damals beschloss er, sich an öffentlichen Debatten solcher Tragweite nicht mehr zu beteiligen. „Ich habe gelernt, dass der Einfluss eines Athleten schnell am Ende ist“, sagt er.
Deutsche Sportlotterie als Fördermittel gescheitert?
Ähnliches erlebte er bei einer anderen Herzensangelegenheit: dem Versuch, die große Ungerechtigkeit der Sportförderung endlich zu beseitigen. Gemeinsam mit dem Unternehmer Gerald Wagener entwickelte Harting, beginnend im Olympia-Jahr 2012, die Deutsche Sportlotterie, ein Tippspiel, für das sie sogar die Glücksspiel-Lizenz erwarben. Doch statt Geld in die Portemonnaies der Athleten zu spülen, stieß das Projekt auf den Widerstand der Sportorganisationen. In den Augen vieler Funktionäre gefährdete es die Umsätze von Lotto und Toto und damit die Fördermittel, die aus diesen Einnahmen fließen. Heute ist das Sportlotto als eines von neun Angeboten auf der Internetseite von Hessen-Lotto gestrandet; es darf als gescheitert gelten.
Nun also Rio, es sollen Hartings letzte Spiele werden. Ein Kreuzbandriss im einen, eine Entzündung im anderen Knie und schließlich ein Muskelriss in der Brust haben ihn anderthalb Jahre gekostet. 68,50 Meter traut er sich nun zu. Damit ist von Platz vier bis zur Goldmedaille alles drin.
Harting reist erst nach der Eröffnungsfeier an
Aus dem Wettbewerb um die Rolle des Fahnenträgers der deutschen Mannschaft war Harting freiwillig ausgestiegen. Er will erst drei Tage nach der Eröffnungsfeier in Rio eintreffen und unbelastet in seinen Wettbewerb mit Qualifikation am 12. und dem Finale am 13. August gehen. Vom Trainingslager in Kienbaum aus hält er Kontakt mit Enttäuschten, Unzufriedenen und Aufmüpfigen. Olympia in Rio: Die Situation schreit danach, sich demonstrativ vom IOC zu distanzieren. Doch zumindest für ihn persönlich ist diesmal alles anders: „Ich darf Olympia noch einmal erleben“, sagt Harting. „Zum ersten Mal kämpfe nicht um meine Existenz.“
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass das Ergebnis keine Relevanz hat. Harting will mehr als einen guten Wurf. „Es geht um sportliche Relevanz; darum, eine Position zu erreichen, in der ich nicht ignoriert werden kann“, sagt er, mit dem alten Kämpfergeist. „Im System muss man als Sportler Gewicht haben. Wenn ich Erfolg habe, habe ich weiterhin die Möglichkeit zu wirken. Wenn nicht, dann nicht.“ Harting will was reißen, um die Marke zu stärken.
Michael Reinsch, Korrespondent für Sport in Berlin
(aus Frankfurter Allgemeiner Zeitung von 5. August 2016)
Die sportliche Karriere des Robert Harting:
Der Athlet Robert Harting wird in Rio de Janeiro zu seinen dritten Olympischen Spielen antreten. 2008 in Peking enttäuschte der gebürtige Cottbuser sich und sein deutsches Team mit Platz vier, 2012 triumphierte Harting in London und gewann die ersehnte Goldmedaille. Auch sonst hat der 31 Jahre alte Leichtathlet fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt: Dreimal nacheinander gewann er den Weltmeisterschaftstitel (2009, 2011, 2013), acht Mal in Folge wurde er deutscher Meister (2007 bis 2014), zweimal wurde er Europameister (2012, 2014). Dass Harting bei Fachleuten beliebter ist als bei Funktionären, zeigte sich bei den Wahlen zum „Sportler des Jahres“: Er trug den Ehrentitel 2012, 2013 und 2014.
Fotos von der Deutschen Meisterschaft 2016 in Kassel, als Robert Harting mit 68,04 m deutscher Meister wurde:
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(Fotos aus Kassel: Alwin Wagner)